Siebzehn

10.7. 2011 5:56

Beim Erwachen spüren, wie man vor einer Zehntelsekunde noch nicht wach gewesen war, und sich wünschen, nicht wach geworden zu sein, danach schlaflos. Stundenlang über die Steuererklärung nachgedacht. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ein panische Angst vor der Steuererklärung. Auch vor anderen Kleinigkeiten, die gemacht werden müssen. Die eigentlich nicht gemacht werden müssen, aber die nicht zu machen einen solchen Schritt aus der Richtung des Lebens heraus bedeutet, daß man gleich aufhören könnte.

11.7. 2011 15:06

Feststellung: Der Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100. Begründung: Bei Ihnen liegen folgende Funktionsbeeinträchtigungen gemäß § 69 Abs. 1-3 SGB IX vor: a) Erkrankung des Gehirns

13.7. 2011 15:53

Ein vier mal vier Zentimeter großes Areal links ist verdächtig auf Tumor, beharrt der Mann vom MRT. Der Mann vom PET sieht nichts. Dr. Vier sieht Strahlenschäden. Jetzt will die Strahlentherapeutin der Charité noch mal gucken, ob in den Bereich auch ausreichend hineingestrahlt wurde.

15.7. 2011 13:03

Schwere Erkältung. Erster ruhiger Tag seit langem. Ich arbeite nicht mehr, ich trinke Tee mit Honig, liege die ganze Nacht wach, schaue Stunde um Stunde Dokumentationen über Dinosauriereier, Expeditionen in die Wüste Gobi, die Donau, den Piltdown-Menschen und das Taung-Kind. Das vor zweieinhalb Millionen Jahren gelebt hat, für drei oder vier Jahre. Dann kam ein Greifvogel.

Schwer vorstellbar, daß es in weiteren zweieinhalb Millionen Jahren die Menschheit noch gibt. Oder? Aufgewachsen als Kind der Achtziger, mit dem Club of Rome auf der einen, dem Atomkrieg auf der anderen Seite, war ich immer sicher, daß es in spätestens zwei, drei Jahrhunderten vorbei ist. Ein bißchen länger wird es wohl gehen – aber nochmal zweieinhalb Millionen Jahre? Und werden die Werke von Karl Philipp Moritz dann noch irgendwo sein? Die Arnolfini-Hochzeit? Wird noch jemand da sein, der eine Erinnerung hat an die kurze Blüte der europäischen Kultur? Gibt es den Sandsteinhaufen der Cheops noch? Und meine Initialen, die ich als Zwölfjähriger auf dem Plateau der Pyramide eingekratzt habe? Wird auch der Schädel von Taung noch irgendwo sein? Plattgedrückt unter neuen Erdschichten, darauf wartend, ein zweites Mal ausgegraben zu werden, mit einem kleinen Metallschild daneben, das von der Erstentdeckung 1924 kündet? Werden die Kakerlaken bis dahin lesen und schreiben gelernt haben? Wird dieses Stück Hirnschale sie genauso rühren wie mich? Wird jemand unsere Abwesenheit bemerken?

Das verstopft seit Stunden mein Hirn.

16.7. 2011 13:46

Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag. Den größeren Teil der Zeit habe ich das Gefühl, tot zu sein. Nur wenn ich Fieber habe und Kopfschmerzen, wenn ich wie jetzt krank im Bett liege, wenn ich die Nacht nicht schlafen kann, merke ich, daß ich alles noch vor mir habe.

Lektüre: DeLillo, Weißes Rauschen, mein Lieblingsbuch von ihm. Seine Haltung der Kulturwissenschaft gegenüber, dem Supermarkt, der Zeit, dem Neuen – wenn man das liest, kommt einem deutsche Literatur vollkommen absurd vor. Ein Kosmos ausschließlich verständiger und intelligenter Menschen, ein Riesenspaß. Und das sonderbar humorlose Dahingleiten seiner Assoziationen, das ich nicht begreife.

Ein bißchen wie in der Malerei. Bei aller Bewunderung und Ehrfurcht, die ich Holbein oder van Eyck entgegengebracht habe – vor ihren Bildern konnte ich noch immer sehen, was das war. Der zarte Schmelz um die feuchte Reflektion auf dem unteren Augenlid des Herzogs von Sowieso, wahnsinnig, wahnsinnig toll, aber ich wußte, wie das gemacht war.

Bei Vermeer wußte ich das nie. Da stand ich vor den Bildern wie ein Idiot. Und ein bißchen so ist das auch bei DeLillo. Ich kann das hundert Mal lesen und begreife die Mechanik dahinter nicht. An meinen eigenen Texten ist jederzeit genau ablesbar, wo ich parallel DeLillo gelesen habe, da schleichen sich dann versuchsweise diese Assoziationssplitter ein, die ich im zweiten Korrekturgang immer wieder rausstreichen muß. Weil, in meiner Prosa haften die nicht, und es ist erbärmlich, ich kann seit Jahren nicht herausfinden, warum.

20.7. 2011 11:19

Die Strahlentherapeutin ruft an, hat sich aber nur verwählt. Auf meine Bilder habe sie auch schon geguckt, ja, aber es sei nicht trivial, sie wolle noch einen Kollegen hinzuziehen, sie melde sich morgen. Zwei Wochen Warten mittlerweile, und immer noch keine Klarheit. Wie soll einer da arbeiten?

21.7. 2011 16:35

Ergebnis: Sie wissen nicht, was es ist. Eine Gliose, vier Zentimeter, kann Strahlenschaden sein oder sehr niedriggradiger, langsamwachsender Tumor, scheint aber in beiden Fällen wurscht, da es keine Probleme macht, gebe so Regionen im Hirn, die man nicht brauche, könne man jahrelang unbehandelt lassen.

23.7. 2011 18:43

Vorläufige Version des Wüstenromans zusammengeschraubt und an die ersten Korrekturleser geschickt. Danach sofort Gefühl der Leere. Was als nächstes? Ich weiß es nicht.

23.7. 2011 18:51

Amy Winehouse.