Sechzehn

26.5. 2011 8:33

Über jedem Kapitel ein Zitat. Manche Kapitel nur zwei Seiten lang, und dann oben diese Brechstange, sehr manieriert. Aber seit ich zum ersten Mal Rot und Schwarz gelesen hab, war das immer mein Traum, auch mal sowas zu machen.

„Lächerliche und rührende Erinnerung: Der erste Salon, den man mit achtzehn Jahren allein und ohne Schutz betritt! Der Blick einer Frau genügte, um mich einzuschüchtern. Je mehr ich mir Mühe gab, zu gefallen, um so linkischer wurde ich. Ich machte mir über alles die irrigsten Vorstellungen: entweder war ich ohne jeden Grund überschwenglich offen, oder aber ich sah in einem Menschen einen Feind, bloß weil er mich ein wenig streng angeblickt hatte. Doch damals in der gräßlichen Qual meiner Schüchternheit, wie schön war da ein schöner Tag!“ Kant, sagt Stendhal. Aber wohl eher Julien Sorel.

26.5. 2011 12:26

Lektüre: Lushins Verteidigung. Nachdem ich es erst nicht lesen mochte, da der Anfang wie die Fortsetzung der unsympathischen Autobiografie wirkt: wahnsinnig toll. Die unglaubliche, leichte Eleganz, mit der er seine Übergänge macht, der Mut zur Auslassung. In der Hochzeitsnacht öffnet Lushin die Tür zum Badezimmer, um sich von etwas „Bestimmtem“ zu überzeugen, dann schließt er die Tür eilig von innen.

Ein andermal fehlt der Satz, den der Doktor zum Vater sagt, und man hört ihn doch sofort, alle vier Worte. Oder jedenfalls das entscheidende Wort. Was bei den meisten Autoren nur die Rätselbeilage zum Feuilleton wäre – hier einfach groß. Bestes Buch über Schach, das ich kenne, und auch eine der besten Darstellungen des Wahnsinns.

29.5. 2011 20:00

Mit Ines in Four Lions. Wenn ich ihr Profil im Halbdunkel sehe, sind siebzehn, achtzehn Jahre ausgelöscht. Zuletzt in Nürnberg zusammen in Monthy Pythons wunderbarer Welt der Schwerkraft gewesen. Dasselbe laute Lachen, das rollende R. Ganz vergessen.

31.5. 2011 19:33

Bei Gewitter und Regen in der Jungfernheide geschwommen.

1.6. 2011 18:30

Die Tür am Freibad Plötzensee steht offen, aber es ist kein Pförtner im Kassenhäuschen. Unten am Strand ist niemand. 20 Strandkörbe stehen leer. Am gegenüberliegenden Ufer zwischen den Bäumen hier und da ein Mensch, aber sonst habe ich den See für mich allein.

2.6. 2011 12:45
Ich weiß nicht, wie ich das Ding die letzten 15 Jahre nicht bemerken konnte. Und was mit den Berlinern los ist, weiß ich auch nicht. Googeln nach Plötzensee und Krokodilen gibt jedenfalls keine Treffer. Heute morgen kurz nach sieben immerhin drei Jungs auf Fahrradtour, die mit mir gebadet haben.

4.6. 2011 11:25

Kapitel bis zum Ende durchgesehen, und zum ersten Mal die Gewißheit, daß es fertig wird. Irgendwie. Fürs Durcharbeiten bräuchte ich noch ein paar Monate. 880.000 Zeichen, ein Fünftel fliegt noch raus.

4.6. 2011 14:10

Eine Biene verletzt und dann getötet bei dem Versuch, sie mit einem Becher aus dem Fenster zu schieben. Nur weil ich aus Faulheit keine Postkarte zum Abdecken griffbereit hatte.

Lektüre: Die Vermessung der Welt. Das Tempo, hatte ich ganz vergessen, ideal für meine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne. Irritierend weiter die dürre Sprache, die programmatische Abwesenheit von Bildern, bei einem, der auf Nabokov schwört.

6.6. 2011 10:55

Budd Dwyer, den ich im Winter schon zwanzig Mal geguckt habe, jetzt runtergeladen, um ihn nochmal Bild für Bild zu gucken. Aber auch so ist nicht zu erkennen, ob in seinem Gesicht irgendwas vorgeht. Weniger als eine vierundzwanzigstel Sekunde. Ein Dokumentarfilm über sein Leben nennt sich Honest Man.

10.6. 2011 7:14

Früh am Morgen auf dem Rückweg von C. gebadet. Das Wasser wärmer als die Luft. Außer mir noch zwei in ihrer Badekleidung keiner sozialen Schicht zuordenbaren Männer, die sich über EHEC unterhalten. Kein Salat, keine Gurken. Die Atmosphäre der Gelassenheit, Gutinformiertheit und Liberalität, die zu mir herüberweht und sich vermischt mit dem kühlen Sonnenaufgang über dem Plötzensee, rührt mich, ein Hauch alter Bundesrepublik.

12.6. 2011 16:30

Dreißig oder vierzig Schwarze am Strand. Erst Trommeln, dann Gesang, dann eine Predigt, die Ungläubigen die Hölle verspricht. Massiger Mann in weißer Hose und weißem Hemd, Simultandolmetscherin, Lautsprecheranlage. Er führt drei Erwachsene vollbekleidet in den See, legt sie rücklings ins Wasser, Jesus liebe sie, Jesus liebe uns alle, er habe sich kreuzigen lassen, seine Arme seien weit geöffnet, es sei nie zu spät. Dabei sieht er die ganze Zeit mich an. Lars bietet mir zwei Euro, wenn ich mich taufen lasse. Am Ende klatscht die Menge, und der Massige ruft: Das war … spitze!

17.6. 2011 12:34

Meine Eltern haben ihren ersten Computer. Über Skype Blick in mein altes Kinderzimmer.

Lektüre: Arthur Gordon Pym in der Arno-Schmidt-Übersetzung. Unglaubliche Freude wieder über die Liste: Partei des Maats, Partei des Kochs. Man sollte keine Bücher schreiben ohne Listen drin.

18.6. 2011 20:11

Den ganzen Abend mit C. zusammen Briefe von Schülern einer Frankfurter Schule gelesen, die als Hausaufgabe ein eigenes Tschick-Kapitel schreiben mußten und einen Brief an den Autor. Wie ich das gehaßt hätte in der Neunten. Und in jeder anderen Klasse auch. Briefe an irgendwelche Idioten schreiben, glücklicherweise thematisieren das einige auch. Aber alle ziehen sich wie ohne Mühe aus der Affäre, auch die beiden Rüpel aus der letzten Reihe, einwandfrei, hätte ich nicht gekonnt in dem Alter. Montessori-Schule, wahrscheinlich mit eingebauter Sozialkompetenz.

Und stellen natürlich auch tausend Fragen. Aber bitte um Verzeihung, zum Antworten fehlt die Zeit.

19.6. 2011 13:56

Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen. Mach ich aber nicht. Mach ich nicht. Nachwehen der Briefe.

24.6. 2011 8:45

Dieser rätselhafte See. Mitten in Berlin, herrlich baumumstanden, Graureiher, Haubentaucher, Blessen und ihre Jungen, klares, erfrischendes Wasser. Und nie ein Mensch.

29.6. 2011 22:08

Gestern kurzentschlossen die Sachen gepackt, zwanzig Minuten später sitze ich im Zug nach Hamburg. Auf der Terrasse im Dämmerlicht, im Haus meiner Jugend, umgeben von Sauberkeit, blühendem Phlox und alten Gerüchen kann ich mir nicht vorstellen, sterblich zu sein.

2.7. 2011 15:29

„Ein Bulldozer rollte rückwärts darüber hin. Er hob seine Schaufel hoch wie ein Priester die Bundeslade, zeigte sie den Ungläubigen und schob den ganzen Schamott den Hügel hinab.“ Der letzte Satz. Im Grunde müßte ich jetzt alles nochmal von Anfang durcharbeiten. Keine Lust mehr. Erschöpft.

5.7. 2011 18:58

Mittags MRT, nachmittags Plötzensee. An Heydrich vorbei, an Todt, an Udet und Mölders, an Richthofen, Scharnhorst, Seeckt und Schlieffen. Warum wäre ich lieber ein toter Militär als ein toter Schriftsteller?

Marga Wolff von Etzdorf (1907-1933): „Der Flug ist das Leben wert.“ Selbstmord mit 25 in der Nähe von Aleppo.

5.7. 2011 20:26

Warten. Wenn man stirbt, stirbt das Bewußtsein. Was ist das Bewußtsein? Man spürt es nicht. Um es zu spüren, fehlt das Organ. Ein paar Gedanken, die sich vergeblich selbst untersuchen, ein paar Ideen vielleicht, zu weiten Teilen ein Ramschladen, das meiste Second-Hand. Irgendwo ein Buchhalter, der die Inventarliste schreibt, die immer wieder angefangene und nie vollendete Sicherungskopie des ganzen Unternehmens, flüchtigen Medien, Tagebüchern, Freunden, Floppy-Discs und Papierstößen anvertraut in der Hoffnung, sie könne eines Tages auf einem ähnlich fragwürdigen Betriebssystem wie dem eigenen unter Rauschen und Knistern noch einmal abgespielt werden. Der Versuch, sich selbst zu verwalten, sich fortzuschreiben, der Kampf gegen die Zeit, der Kampf gegen den Tod, der sinnlose Kampf gegen die Sinnlosigkeit eines idiotischen, bewußtlosen Kosmos, und mit einem Faustkeil in der erhobenen Hand steht man da auf der Spitze des Berges, um dem herabstürzenden Asteroiden noch mal richtig die Meinung zu sagen.

5.7. 2011 21:10

Garefrekes, yeah.

6.7. 2011 13:30

Befund wie immer undurchsichtig, gliöses Wachstum, Verdacht auf Niedergradiges, sagt der Radiologe, kein Behandlungsbedarf, der Onkologe.