Fünfzehn

6.4. 2011 2:11

Spät in der Nacht noch mal in Abfall für alle rumgelesen, konnte mich nicht losreißen trotz Müdigkeit. Dagegen komme ich mir vor wie eine schwäbische Hausfrau, die Kochrezepte archiviert. Was auch daran liegt, daß ich schon lange keinen Input mehr habe. Bei Filmen hab ich die Orientierung völlig verloren, ich les nichts mehr, und alles, was kleiner ist als explodierende Atomkraftwerke, unterläuft meinen Radar. Was die Araber da machen zum Beispiel. Von sowas wie deutscher Gegenwartsliteratur ganz abgesehen. Ab und zu treff ich noch ein paar Leute, die Gedanken in mich einfüllen, aber viel zu selten.

7.4. 2011 17:02

Und jetzt melden sie noch die Entdeckung einer fünften Grundkraft der Physik. Wahnsinn. Nicht sicher. Jedenfalls scheinen sie ein paar W-Bosonen zuviel zu haben, und da muß dann wohl noch irgendwo ein Teilchen kommen.

Zwanzig Jahre lang war ich immer froh, daß ich nicht Mathe und Physik studiert hab, wie das eigentlich nahegelegen hätte. Und ich glaube auch, daß es zuletzt richtig war. Schreiben war richtig, Berlin war richtig. Aber daß ich von dieser ganzen Teilchenphysik jetzt nichts mehr verstehe und nicht mal drüber nachdenken kann, deprimiert mich. Letztes Jahr den Quantenradierer auf Wikipedia entdeckt und schier verrückt geworden.

Im Physik-Unterricht der zwölften Klasse, wo wir das hergeleitet hatten, war das noch unproblematisch. Beugung und Interferenz am Doppelspalt komplizierte, aber ausrechenbare Phänomene, am Ende stand da eine Formel für das nicht Meßbare, und was das wirklich bedeutet, ist mir erst Jahre später aufgegangen. Oder die Erschütterung stellte sich erst Jahre später ein. Aber der Quantenradierer vervielfacht den Irrsinn noch einmal, und daß so wenige Leute darüber ihren Glauben verlieren, hängt vielleicht auch damit zusammen, daß man mit dieser skandalösen Welt schon immer sehr früh, praktisch schon als Kind konfrontiert wird. Einstein ist der witzige Mann mit der Zunge, Schwarze Löcher billardkugelförmige Staubsauger, die Zeit ein Gemälde von Dalí. Wir begegnen dem halb roten, halb blauen Astronautenbrüderpaar und haben lange Jahre, uns an all das zu gewöhnen, bis wir in ein Alter kommen, in dem der Verlust der Kausalität uns wirklich entsetzen könnte.

Das erste Mal in meinem Leben, glaube ich, daß ich „wir“ gesagt habe. Ich laß es trotzdem mal stehen in der Hoffnung, daß man mich, nachdem mich irgendein Pfeifensack im MDR schon als Rosamunde Pilcher bezeichnet hat, nicht auch noch mit Juli Zeh vergleicht.

19.4. 2011 17:48

Cefalu. Kleines Haus in einem Zitronenhain. Palmen, Kiefern, Oleander, eine Hecke aus Kakteen, zerzauste Hunde. Am Ende des Gartens die Dünen, das Meer. Und kein Mensch.

20.4. 2011 15:30

Kajak fahren. Das Kajak hat ein kleines Loch und eine Wasserlage, daß man sich fühlt wie ein Eingeborener in seinem Einbaum. Einmal bei mittlerem Wellengang bis zur nächsten Landspitze und zurück. Am Ufer sammelt Passig Holz.

Lektüre: Taipi von Melville. Abgebrochen. Zuerst zieht es mich mächtig an, wie alles mit Südsee, dann wird es langweilig. Oder mir wird langweilig. Ich kann das nicht mehr unterscheiden. Mein Urteil immer stärker getrübt von Stimmung und Kontrast zum vorigen Buch. Keine Ahnung, wie professionelle Kritiker mit dem Problem umgehen. Oder doch natürlich: mit der ihnen eigenen Wurstigkeit. Aber die besseren?

Als Jugendlicher mal nacheinander Dostojewskij und Perutz gelesen und gedacht: Wie kacke ist das denn? Seitdem oft und von zurechnungsfähigen Leuten gehört, daß Perutz angeblich schreiben konnte. Hat aber nie eine zweite Chance bei mir bekommen.

25.4. 2011 7:13

Sturm, Regen, Gewitter. Gebadet. Lektüre: In Cold Blood. Passig liest mit und findet es wie alles, was kein Sachbuch ist, langweilig. Betulich, behäbig, wie Spiegel-Journalisten schreiben. „Das Städtchen Holcomb liegt auf der Weizenhochebene von West-Kansas, eine weite einsame Gegend …“ Ja, finde ich aber nicht. Das einzige Buch, an das ich mich erinnern kann, über das zwischen uns jemals Einigkeit herrschte: Verzweiflung von Nabokov.

Das Schönste wie immer der Morgen. Wenn ich um halb sieben aus dem Haus trete, kommt als erstes ein dreibeiniger Hund angesprungen, freut sich, wie ich mich freue, und begleitet mich ans Meer.

29.4. 2011 11:01

Sascha hat auf unserer Terrasse einen kleinen Gecko gefangen. Nur eine Zehntelsekunde, bevor die Katze ihn gefangen hätte. Sie fing dann Saschas Hand. Wenige Minuten später hat sie eine grüne Eidechse quer im Maul. Ich springe auf, und sie schlingt das Tier am Stück hinunter. Gegen Mittag kommen fünf oder sechs Hunde, die auf dem Grundstück streunen, und jagen die Katze durch die Löcher im Zaun und auf die Bäume.

1.5. 2011 22:39

Allein den Strand runter. Gewitter färbt den Himmel rotbraun über dem flaschengrünen Meer. Auf zehn oder fünfzehn Kilometern begegne ich keinem einzigen Menschen. Nur ein Hund guckt aus den Dünen. Eine Weile ist das schön, dann verwirrend, am Ende erwartet man, Zombies auftauchen zu sehen. Oder die Freiheitsstatue, vor der man sich als Charlton Heston verzweifelt in den Sand wirft.

Abends Sturm, der im Minutentakt seine Temperatur wechselt.

Passig erzählt, daß sie zu jedem Wort, das sie kennt (von banalen Wörtern wie Präpositionen abgesehen), weiß, wo sie es zum ersten Mal gehört hat. Und sie dachte bis jetzt, es ginge jedem so. Ich hatte mal eine Freundin, D., die, sobald sie sich hinlegte und die Augen schloß, Traumbilder vor sich ablaufen sah wie in richtigen Träumen. Dachte auch, das ginge jedem so.

4.5. 2011 20:32

Den ganzen Nachmittag mit Jan am Meer. Den Felsen Richtung Cefalu erstiegen und auf dem Rückweg den alten Menschheitstraum verwirklicht, ein Flüßchen am Strand umzuleiten. Komplizierte Dämme gebaut, Fundamente aus Fels, Wasserleitungen aus Schilfrohr, und die bald im Minutentakt durchbrechende Flut in immer neue Bahnen gelenkt. Kurz nach dem Einstellen der Wartungsarbeiten sieht es aus wie das Römische Imperium nach den Vandalen.

Kennengelernt hab ich Jan vor über zehn Jahren, aber eigentlich kennen wir uns kaum. Und dann einen ganzen Tag knietief in einem Abwasserfluß stehen und mit Schlamm schmeißen, das ist schon sehr angenehm. Oder ist das selbstverständlich? Kann ich nie einschätzen, ob mein Bekanntenkreis da repräsentativ ist. Aber sind ja alle so.

5.5. 2011 8:21

Traum: Ich gehe auf eine Lesung von Günter Grass. Grass hat abgesagt, aber mein Nachbar von zwei Stockwerke unter mir, ein Skinhead, ein Nazi, ein Intellektueller (er geht auf Lesungen) ist da. Er beleidigt mich und behauptet, meine Schuhe wären scheiße. Die Freundin an seiner Seite ist die schönste Frau, die ich seit langem gesehen habe. Und der Mann sieht eigentlich auch ganz sympathisch aus. Wieder zu Hause fühle ich mich diffus von ihm bedroht und erschieße ihn und ein halbes Dutzend seiner glatzköpfigen Freunde.

6.5. 2011 18:24

Rumgelesen in der Italienischen Reise, Sehnsucht bekommen nach diesem Land. Oder vielleicht auch nur nach der Zeit. Mit Ctrl+F nach Moritz gesucht, der von allen Menschen aus der Vergangenheit wahrscheinlich derjenige ist, dem ich am liebsten einmal begegnet wäre. Leider schreibt Goethe nicht viel über ihn, außer daß er ihn auch schätzt.

10.5. 2011 20:45

Den ganzen Tag lang nicht gebadet, die Wellen lassen es nicht zu. Nicht so hoch wie auf Fuerteventura, aber dafür so gedrängt hintereinander, daß man nicht reinkommt ins Meer. Marek versucht es trotzdem, treibt wie ein Korken über die ersten drei Wellenkämme und wird vom vierten weggedrückt. Fünfzig Meter seitwärts krabbelt er auf den Strand, und dann kommt schon irgendein Italiener und droht, auf seinem Handy die Polizei zu rufen. Ob wegen Leichtsinn oder mangelnder Badehose, bleibt ein wenig unklar.

Im Restaurant an einem Vierertisch muß ich nachzählen, wieviele wir sind. Kathrin, Jan, Marek – und war da nicht noch einer? Ach ja, ich. Eine Gruppe von drei überblicke ich auf Anhieb, bei vier muß ich zählen. Zahlen, Sichtfeld, Orientierung und jeden Morgen das Spielchen: Was ist mein linker Schuh und was mein rechter? Aber das war’s im wesentlichen.

Gunter Sachs hat sich erschossen. Alzheimer, Selbstdiagnose.

11.5. 2011 11:19

Arbeit auf der Terrasse. Am Nebentisch die von einem anthroposophischen Bildhauer der 1920er Jahre geformte Skulptur des Lesenden (Ton, unglasiert), der ein Witzbold Monobloc und Kindle untergeschoben hat – Marek.

17.5. 2011 9:02

Zweihundert Seiten, auf denen sie den Held zu Tode foltern. Vor knapp fünf Jahren angefangen, als ich gerade in der Fahnenkorrektur zum Van-Allen-Gürtel war und im Fernsehen dieser Film mit Ray Liotta lief. Und schon damals als bewußter Gegenpol zu Tschick und seiner Freundlichkeit konzipiert, die nihilistische Wüste. Fand ich früher ja lustig, Gewalt. Aber jetzt zieht es mich runter. Lieber würde ich was anderes schreiben. Den Teil, wo sie ihm die Finger abschneiden, kochen und zu essen geben, rausgeschmissen. Am Ende soll er auch noch einmal laufen können.

„Nachdem Carthage den Kot auf der ganzen Zeitung wie auf einem großen Nutella-Brot ausgestrichen hatte, verkündete er mit dem Gesichtsausdruck und im Tonfall eines Achtjährigen: ‚Hier ist nüscht.'“ Das Feuilleton wird es lieben.

21.5. 2011 20:00

In der Karaoke-Bar am Strand. Mafiagesichter treten nacheinander ans Mikrofon und singen Sentimentales. Bei besonders schwierigen Passagen gibt es Zwischenapplaus von einem immer wieder enthusiastisch von seiner Pizza auffahrenden Pussy Bonpensiero. Ein dickes Mädchen darf nicht singen. In einem mit Brettern abgetrennten zweiten Raum sitzen ein Dutzend Bauarbeiter und schauen Zeichentrickfilme, jeden Abend.

22.5. 2011 12:22

Mit Philipp in einem Straßencafé in Palermo. Es regnet.