Sechsunddreißig

25.1. 2013 8:19

In den Schild aus Eisschollen, der sich von Tag zu Tag weiter und bis hinter die Signalbrücke zurückstaute, schiebt der Eisbrecher eine schmale Fahrrinne. Sie wird immer schmaler, über Nacht schließt sie sich.

Morgens kann ich kaum sprechen. Wörter mit vier oder mehr Silben kann ich nicht sagen, oft nicht denken. Prognositizieren – im dritten Versuch macht Google einen passenden Vorschlag. Problem immer Verteilung der Konsonanten.

26.1. 2013 19:42

Allein auf dem See. Weiß das Ufer, schwach orange der Vollmond, hinten ist eine Fläche für Eishockey freigeschoben.

27.1. 2013 15:30

Leichter Schneefall, herrlicher Tag, Eine Aufregung wie als Kind. Mit vier hatte ich meine ersten Schlittschuhe. Seitdem immer gelaufen, jeden Winter, jeden Tag, wenn Eis war. Im Winter Eishockey, im Sommer Rollhockey, manchmal zehn oder elf Stunden am Tag, bis Arthrose beide Knie auflöste und mich für lange Jahre zum Fußgänger machte.

Aber zwanzig Jahre habe ich immer Schlittschuhe und Rollschuhe bei jedem Umzug mitgeschleppt. Alles andere weggeschmissen, meine Bilder, Möbel, Bücher, Papiere, alles. Die Schuhe nicht.

Nun sitze ich mit getapeten Knien am Rand des Plötzensees, schnüre die Eishockeystiefel und weiß, es ist das letzte Mal.
Mit dem Aufstehen kehrt sofort das alte Selbstvertrauen zurück, und ich weiß, es wird gehen. Ich habe nichts vergessen und nichts verlernt. Aber es geht nicht. Ich schliddere nur so rum.

Der rechte Fuß funktioniert einigermaßen, der linke ist taub und teilt seine Gelenkstellung nicht mit. Die gut geölten Bewegungsroutinen, die das Hirn nach unten meldet, finden keinen Empfänger. Ich kann es nicht mal beschreiben. Analog zum Phantomschmerz vielleicht: Phantomkontrolle. Wenn ich noch einige Stunden übte – aber meine Freunde wollen nach Hause. Wayne Gretzky ist nicht mehr.

30.1. 2013 19:00

Im Dunkel versucht, auf einem mir vorher auf Google Earth genau eingeprägten Weg zu C. zu gelangen. Nach vierstündigem Fußmarsch, von Schnellstraßen und Autobahnzubringern umzingelt, aufgegeben und mit dem Taxi zurück. Zu Hause auf der Karte gesehen, daß ich nur 150 Meter von der Schneckenbrücke entfernt gewesen war.

31.1. 2013 17:19

Lektüre: Nadja von Breton, 1928 geschrieben, 1963 überarbeitet, 20 Auflagen, neu übersetzt, Nachwort von Karl Heinz Bohrer, Meilenstein der Moderne, Rezensionen, FAZ, SZ, ich versteh’s nicht. Perlentaucher dazu, deutsche und französische Wikipedia, ich verliere fast den Verstand, Riesenangst, wieder verrückt geworden zu sein. Eine Stunde nachgedacht, ob es nicht besser wäre, niemanden zu informieren, Gesundheit zu simulieren, ob die Simulation von Gesundheit nicht ebensogut sei wie normalmäßige Normalität, ob diese aus jener sich nicht von selbst über kurz oder lang zwangsläufig ergebe, dann in Panik Reiber angerufen, um auf der Stelle beruhigt zu werden, ah ja, ok, ja, denkt er auch, kann ich nicht überprüfen, irre, jetzt vorbei, Buch in den Müll geworfen, Teufelswerk.

Für Hirngeschädigte, die in jedem Geräusch, in jedem Knistern, Schaben und Schleifen, im Singen eines Autoreifens, im Sprudeln des Wassers Gedanken glauben ausgesprochen zu finden: nicht nachmachen. Nicht kaufen. Für alle anderen: Auch nicht kaufen.

Als Jugendlicher mit Dada sozialisiert worden, rätselhaft. Aber exakt so sieht es über weitere Strecken des Tages in meinem Hirn aus, das brauch ich nicht noch als Buch.

2.2. 2013 3:25

Ich stehe in der Steppe, ein Löwe schleicht um mich herum, aber ich habe keine Angst. Ich habe eine großkalibrige Flinte und einen sechsschüssigen Revolver. Als das Tier nahe genug ist, schieße ich, Kugel für Kugel geht fehl. Erst mit der letzten Patrone treffe ich, und der Löwe kippt auf die Seite und ist tot.

Hinter dem Löwen her schleppt sich ein tollwütiger Fuchs auf mich zu. Ich wechsle zum Revolver. Der Fuchs ist schwieriger zu treffen, weil er dünner ist. Er hat Schaum vorm Maul und taumelt. Ich habe keine Munition mehr. In Panik flüchte ich in ein Haus und verschanze mich im Bad. Wie ein Geist weht der Fuchs durch eine Ritze in der Wand zu mir herein und versteckt sich hinter der Tür. Ich habe nur noch eine Gabel. Damit stochere ich blind hinterm Türblatt herum. Endlich spüre ich einen fellüberzogenen weichen Widerstand. Die Gabel steckt zwischen den Rippen des Fuchses. Er verendet. Ich werfe den Kadaver ins Waschbecken. Das ganze Bad ist blutbesudelt. Beim Putzen frage ich mich, ob ich mich infiziert habe. Ich kann keinen Notarzt erreichen.

Tollwütige Füchse sind eine Kinderangst von mir. Kühe, tollwütige Füchse, durch das Fensterglas schwebende Gespenster, Einbrecher, Mitschnacker (Pädophile). In dieser Reihenfolge.

Nach meinem Umzug nach Berlin sprang ich nachts noch einmal aus anderthalb Metern Entfernung auf mein Bett, weil ich nicht wußte, was darunter war. Ein Mann von 33 Jahren.

6.2. 2013 5:50

Der Sonnenaufgang verschiebt sich immer weiter in die Nacht. Ich muß jeden Tag früher aufstehen, um mit einem Tee in der Hand auf den ersten Lichtstrahl am dunklen Himmel zu starren. Ich will im Winter sterben. Das haben die letzten Sommer gezeigt, im Sommer geht es nicht. Im Winter ist es leicht.

7.2. 2013 18:18

Unter der Brücke loht ein haushohes Feuer, wahrscheinlich die Baustelle. Sattes Orange, vom warmen Blaulicht bedrängt und gelöscht, Naturalismus, frühes 19. Jh., Turner vielleicht, dann schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund.

Demnächst an dieser Stelle: Nichts vor Nichts (o. Abb.).

11.2. 2013 15:48

Papst zurückgetreten, Name vergessen.

11.2. 2013 17:00

Ein dünner epileptischer Firnis überzieht meine Tage, immerzu Stimmen.

Und Selbstmord doch nicht so schwierig, wie ich lange dachte. Es reicht, die Föhrer Straße bei Grün zu überqueren. Weder Linksabbieger noch Geradeausfahrer erkennen in den verschieden bunten Lichtern etwas anderes als einen unverbindlichen Vorschlag der Behörden.

15.2.2013 19:00

Kleine Brouillerie mit Lottchen. Über Tscheljabinsk ist ein Zehn-Tonnen-Meteorit explodiert, etwa tausend Verletzte durch die Druckwelle. In einem zugefrorenen See ein Loch, aus dem sich für einen Moment ein schleimig-grüner Arm heraustastet, von den Kameras nicht bemerkt.

C. ist deutlich weniger begeistert als ich, und auch mein Versuch, den nur wenige Stunden später an der Erde so nah wie lange nichts mehr, auf Satellitenhöhe, vorbeischrammenden 13.000-Tonnen-Asteroiden 2012 DA 14 mit meinen Gedanken zu uns hinunterzulenken, findet nicht ihren Beifall.

18.2. 2013 12:33

Man rät mir zum GPS-Handy, hilft nichts. Ich kann C. doch anrufen, das mache ich ja, ich lese die Straßennamen und sage, ich stehe an der und der Kreuzung, rechts geht es in den Tegeler Weg. C.s Informationen kann ich nicht auf die Landschaft übertragen. Ich kann den Tegeler Weg nicht runtergehen, denn er hat zwei Richtungen. Man kann mir ein Gerät in die Hand drücken, auf dem ein grüner Pfeil die Richtung zeigt, in die ich muß: Ich kann dem Pfeil nicht folgen. Lars hab ich das mal vorgemacht, wie ich mit einem Kompaß in meiner Wohnung Norden suche, um aus dem Fenster in die Richtung gucken zu können, aus der das Gewitter kommen wird – funktioniert nicht. Ich weiß immer noch nicht, wo Norden ist. Norden ist ein 180-Grad-Winkel etwa.

Zahlen sind komplett weg. Das Kleine Einmaleins ist noch da, weil es nicht Rechnen ist, sondern Erinnerung. Aber Zahlen: Null.

Einfache Multiplikation nicht im Kopf, nicht auf Papier und auch nicht anders. Wenn ich was rechnen muß, benutze ich den Taschenrechner des Macbooks, was auch Schwierigkeiten macht.

Meistens mache ich vier oder fünf Versuche und entscheide mich für das häufigste Ergebnis. Vier identische Zahlen untereinander: Okay, das überweise ich dann jetzt mal an das Finanzamt.

Ich lerne nichts Neues mehr. Weil ich nicht will. Es ist wie mir Bücher zu schenken: Erinnert mich an den Tod. Neues braucht man für später, Bücher liest man in der Zukunft. Das Wort hat für mich keine Bedeutung. Ich kann den heutigen Abend in Gedanken berühren, dahinter ist nichts. Ob ich nachher noch C. treffe, ob wir verabredet waren, weiß ich nicht. Sie wird mich anrufen, um mich daran zu erinnern oder nicht.

19.2. 2013 7:00

Drei Jahre.

84% derer, die Bestrahlung und Chemo hatten, sind tot, 95.6% derer mit Bestrahlung allein (UCLA, 2009). Wobei das noch die optimistischste Studie ist, die ich finden konnte. Da überleben zum Beispiel 9.8% fünf Jahre, während andere Studien durchschnittlich weniger als 2% Fünfjahresüberlebende ausweisen. Zum Vergleich: Leute mit nur Biopsie und Bestrahlung sind nach vier Jahren noch zu 0% am Leben (optimistischste Studie), was das Erreichen der Fünfjahresmarke selbst für überzeugte Gemüsekostler zu einer Herausforderung macht.

Unsterblich duften die Linden –

20.2. 2013 11:29

Lektüre schon wieder Duve, Liebeslied, bereits zum zweiten Mal seit meiner Diagnose. Und wie oft zuvor schon, weiß ich nicht mehr. Trotzdem habe ich wieder Sachen vergessen. Die Bootstour mit Hemstedt, wie sie sich an den Tag erinnert, wie die Erinnerung zerhackt wird, und wie das gemacht ist. Auch der Goethe-Aufsatz: Wie sie Werther erst für sein empfindsames Gewinsel beschimpft und dann heimlich zitiert – vergessen.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß sie dem Armleuchter, Thor-Kunkel-Bejubler und Goetz-zu-kühl-Finder Volker Weidermann spätestens in den Neunzigern die Hauptplatine rausgelötet haben, reichte sein Urteil: „Der Roman ist kein Roman, sondern eine entwicklungslose Leidensgeschichte, eine Selbstmitleidsgeschichte, der selbst Duves böser Blick von einst verlorengegangen ist. Leidverbissen, hoffnungslos.“ Am Arsch, Mann. Am Arsch. Wie das Kohelet auch sollte man Dies ist kein Liebeslied (beschissener Titel leider) mindestens alle fünf Jahre einmal lesen, bis man hundert ist, um keine Sekunde zu vergessen, was das hier ist und was es bedeutet: Nichts. Und insbesondere: Nichts Gerechtes. Und wieder kriegt Anne Strelau die Fresse voll. Und wieder. Und wieder und wieder.