Dreißig

26.7. 2012 8:45

Ohne Operation wären Sie tot, erklärt Dr. Fünf und freut sich am guten Zustand des Patienten. War mir selbst zwar auch irgendwie klar, gesagt aber hatte das bisher keiner, und ich bin in diesen Phasen immer so gleichgültig gegen alles, daß außer der aktuellen Gegenwartssekunde in meinem Bewußtsein nichts Platz hat. Der Ausblick auf die beiden grünen Kuppeln auf dem Nachbargebäude im frühen Morgenlicht, das Krankenhauskäsebrot, das meine Hände mit einer Gurkenscheibe garnieren, der Aufenthalt im ansteckenden Vitalismus einer Krawallspatzenwolke. Das ist mein Horizont.

27.7. 2012 10:49

Das Unangenehme an dieser ganzen Beschneidungsdebatte schon wieder, daß es genau wie beim Frauenwahlrecht, dem Schwulenparagraphen, dem Rauchverbot, der Sterbehilfe oder der Einführung der fünfstelligen Postleitzahlen eine von Anfang an klar erkennbare Position der Vernunft gibt, die sich am Ende auch durchsetzt. Was von der Querulantenfraktion Monate, Jahre oder Jahrzehnte verzögert, aber niemals verhindert werden kann. Es ist ermüdend.

28.7. 2012 2:00

Seit Anfang der Woche große Hitze, ich schwitze und habe Kopfschmerzen und Fieber, das ich nicht messen kann, weil ich nicht weiß, wo mein Thermometer ist. In der Nacht Umzug auf den Balkon, wo wenigstens ein leichter Wind weht und die Sterne blinken. Das ist schön, aber immer wenn ich eine Sekunde hochschaue, bin ich schon eingeschlafen.

28.7. 2012 14:00

Thermometer gefunden, 39,3°. Notfallonkologennummer angerufen. Dr. Sechs rät zum Krankenhaus, damit die mal draufschauen.

C. steht schon mit dem Taxi vor der Tür, da sage ich, schick’s wieder weg, schaff ich nicht, zu schlapp für sechs Stunden auf einem Stuhl im Krankenhaus sitzen und Formulare ausfüllen. Gib mir noch einen Tag. Und dann noch einen und dann noch einen.

Langsam geht das Fieber runter.

29.7. 2012 17:00

Besuch von Calvin, der zufällig in Deutschland ist. Ich hatte große Angst vor einer Begegnung, wollte erst nicht. War dann aber doch gut. Mein ältester Freund. Mach’s gut.

2.8. 2012 20:04

Donner, Sturm und Blitz, Hagelkörner so groß, daß sie in der Straße der Reihe nach die Autoalarmanlagen anschalten. Wir setzen uns raus, wir setzen uns rein. Kinder, die noch nie Hagel gesehen haben, sammeln die Klumpen ein, die über die Schwelle des Lindengartens springen und hüpfen und schießen. Ein Mädchen streckt die Hand aus und schlägt vor zu tauschen.

5.8. 2012 19:55

Mit dem Fahrrad zu C., als fahre man in die Vergangenheit. Der Geruch des Sommers drückt dunkel und breit aus den Flächen hoher Bäume, auf die es den ganzen Tag geregnet hat. Die vertrauten Ausblicke über Brücken, Kanäle und Wege sind nicht mehr so schön wie früher, als ich noch keine Terrasse hatte.

Zwei oder drei Anfälle. Sind die Kinder im Hof oder in meinem Kopf? Im Hof, sagt C.

5.8. 2012 23:30

Maximal schnell zurück und Usain Bolt gucken. Die unglaubliche Freude, das seltsamste Wesen auf dem Planeten bei Höchstleistungen in Bereichen, für die es nicht ausgelegt ist, sich abmühen zu sehen, als ginge es um Leben und Tod, worum es wahrscheinlich auch geht – die gleiche Freude, wie sich Robert Koch über sein Mikroskop gebeugt vorzustellen, Einstein und Bohr in Kopenhagen, die Freude, sich unter das Messer des besten Neurochirurgen der Welt zu legen, der Enthusiasmus, Teil dieser der Evolution längst entglittenen und auf dem Weg ins Ungewisse befindlichen Art und ihres auf verschlungenen Pfaden geführten Kampfes gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und den immer wieder und in jedem Moment übermächtigen Impuls zur Selbstauslöschung zu sein – ich reiße die Arme hoch, Bolt reißt die Arme hoch, der schnellste Mann auf dem Planeten, Sieg! Sieg für Bolt! Sieg für uns alle!

9.8. 2012 19:30

Cornelius holt den Holtrop ab, der plötzlich in meinem Briefkasten steckt, und liest, während wir im Deichgraf sitzen, schnitzelkauend Stellen vor, Wahnsinn, sagt er, Wahnsinn, was ist das. – Und wann krieg ich das wieder?

16.8. 2012 21:55

Der Putzzwang, der nach meiner Erstdiagnose und in Verbindung mit meiner Manie zuerst auftrat, dann erneut beim Umzug in die neue Wohnung und noch einmal verstärkt nach der dritten OP, läßt wieder ein wenig nach, verschwindet aber nicht. Eine Staubflocke am Boden, und ich bin arbeitsunfähig.

17.8. 2012 17:29

Antrag auf Avastin von der Krankenkasse zum zweiten Mal abgelehnt.