Zwanzig

22.9. 2011 23:59

„Heiliger Vater verursacht Ungläubigem epileptischen Anfall.“ Schlagzeile, die man in der morgigen BZ vermutlich nicht lesen wird.

Seit Tagen schon ist jeder Gullideckel auf dem Weg zur Mensa mit Metallstreifen versiegelt. In der Hannoverschen Straße das Haus der Deutschen Bischofskonferenz, ein Gebäude, das mir in all den Jahren nur aufgefallen ist, weil dort für gewöhnlich sehr breithüftige Männer in hochunmodischen Stoffhosen ein- und ausgehen und weiter nichts.

Jetzt die ganze Straße gesperrt, Polizei winkt mich zur Seite, bei Subway kann man mit Mensacard nicht zahlen, zurückrasen, Geld holen, essen, Mittagsschlaf fällt aus. Dann Versuch, zwischen kreischenden und blinkenden Polizeikonvois zur AOK durchzukommen, denn wenn man am Hirn operiert werden soll und möglicherweise nur noch eine zweistellige Zahl von Tagen zu leben hat, muß unbedingt ein Tag damit verbracht werden, sich ein rosarotes Papier vom Arzt ausstellen zu lassen, das dann auf die AOK-Geschäftsstelle gebracht und abgestempelt werden muß, wo dreißig Leute in einem stickigen Wartesaal warten und durcheinanderreden – Stimmen, Lichter, Piepsen, Baustellengeräusche – nächster Anfall. Draußen auf einer Bank versuche ich zu verstehen, was mir die Stimmen diesmal auf Englisch sagen. Papst töten? Den Nachbarn? Mich? Grammatik zerschossen. Schließlich kommt eine freundliche AOK-Mitarbeiterin mit dem gestempelten Papier zu mir heraus.

Daß eine Gesellschaft es sich leisten kann, eine Millionenstadt einen Tag lang lahmlegen zu lassen durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet, erstaunlich. Und herzlichen Dank. In hundert Jahren kennt dich kein Mensch mehr, römischer Irrer. Mich schon.

Wie Manie und Größenwahn sich zuverlässig zurückmelden, wenn mir der Arsch auf Grundeis geht. Zwei Seiten Beschimpfungen gelöscht wg. unoriginell.

23.9. 2011 16:35

Versuch eines ruhigen Tages. Keine Arbeit, mittags Mensa, dann Schlaf. Dann Bumsmusik meines Nachbarn, dann Anfall.

23.9. 2011 18:00

Kein Arzt erreichbar, Wochenende. Fußball. Mitspieler Daniel (HNO) ruft einen befreundeten Intensivmediziner an, der telefonisch zur Benzodiazepin-Erhöhung rät, da ich mit dem Keppra praktisch an der Grenze bin.

Drei Tore geschossen, aber in der Überzahlmannschaft. Keine Befriedigung. Immerhin: keine motorischen Defizite.

24.9. 2011 13:32

Zum Nachbarn runter. Wie so oft öffnet er nicht. Aber die Musik wird leiser. Als ich wieder oben bin, wieder lauter. Ein, zwei Stunden kann ich mit Ohrstöpseln dasitzen, dann tut der Kopf weh und ich muß flüchten vor den Stimmen, die sich an den Rändern einnisten.

24.9. 2011 15:55

Thermoskanne eingepackt, Badehose, Goetz‘ Klage, Rot und Schwarz.

Lieblingsgestalten der Weltliteratur: Julien Sorel.

In der Nähe der Fennbrücke gibt es eine Wiese, wo es ganz still ist, und eine Bank, wo man sitzen kann wie alte Leute. In Ufernähe gebadet.

24.9. 2011 21:45

Nächster Anfall trotz 20 mg Frisium. In der Nacht erwacht mit der gestammelten Zeile „Weser, Unterweser“ auf den Lippen, keine Ahnung, ob Anfall oder nur Alptraum.

25.9. 2011 14:00

Je höher die Dosis, desto wackliger. Traue mich nicht nach Hause wegen Nachbar und übernachte bei C. Nachmittags kein Anfall, aber ständig die Ahnung einer Ahnung. Zerrüttet mich.

25.9. 2011 15:30

Liege am Plötzensee am Strand in der Sonne. C. und Lars stehen etwas abseits, und ich kann sehen, worüber sie sprechen.

Joachim hat Sand zur Hälfte gelesen und stellt die Frage, die ich mir auch schon lange gestellt habe: Was ist denn das nun eigentlich? Der Verlag hat es mal Richtung Thriller gelabelt, aber es ist ein weites Feld zwischen Unterhaltungs-, Schund- und Gesellschaftsroman, von Thor Kunkel bereits mäßig erfolgreich beackert.

26.9. 2011 07:57

Drei Minuten vor der Öffnung der Praxis am Montagmorgen sitze ich bei Dr. Fünf vor der Tür. Sofort werden die Schutzschilde hochgefahren: Keppra 3000, Frisium 30.

28.9. 2011 17:09

Leichtes Schwanken.

„Das sind die Löcher in der Kausalität. Es ist der fehlende Übergang von Ursache zu Wirkung. An diesen Stellen klafft das ganze Universum auf.“ (Vogl-Interview zu Moby Dick)

29.9. 2011 12:57

Musik. Gehe zum Nachbarn und schlage vor, ihn umzubringen. Oder die Musik leiser zu drehen. Eine friedliche Möglichkeit, eine unfriedliche. Biete an, wenn es am Geld liegen sollte, ihm die teuersten, drahtlosesten, luxuriösesten Kopfhörer zu schenken, die es gibt. Aber er will gar keine Kopfhörer. Die störten auf dem Kopf, und er wolle einfach nur seine Bumsmusik hören.

C. sagt, sie habe keine Lust, mich im Gefängnis zu besuchen. Aber juristisch keine Gefahr, glaube ich, maximal Klapse, und da ist es wenigstens ruhig. In den letzten Tagen oft mit Sehnsucht an den kleinen ziegelummauerten Hof gedacht, wo man mit freundlichen Irren Frühlingsblumen gucken, Dostojewskij lesen und Tischtennis spielen konnte.

1.10. 2011 21:00

Die Sensation überwiegt die Konzeption, sagt Julia über Leben und Blog und händigt mir den Schlüssel zu den Räumen der Foucault-Gesellschaft aus, damit ich ungestört arbeiten kann. Irgendeine obskure Soziologenvereinigung.

3.10. 2011 10:19

Letzte Nacht angekommen, Julia und ihre Schwester kurz zu Besuch, Kathrin, fast wie Urlaub. Sitze jetzt im Schaufenster in der Manteuffelstraße und arbeite. Lese Xenophon und überlege, das bescheuerte Berkéwicz-Zitat in Sand durch ein ebenso bescheuertes von Sokrates zu ersetzen.

Foucault und der andere philosophische Jahrhundertmüll an den Wänden sagt mir wenig, aber die Dimension der Teekanne spricht eine klare Sprache: Hier wird gedacht, ordentlich gedacht, ein Denken in die richtige Richtung. Zwei-Liter-Teekanne, Stövchen, Darjeeling der Teekampagne. So und nicht anders geht Geist.

3.10. 2011 12:09

Allerdings auch ein ein wenig staubiger, wenn nicht gar schmutziger Geist, wider den jetzt mit der Vampyrette mal entschieden gegen angegangen werden muß.

3.10. 2011 13:33

Lese meine eigenen Dialoge und stelle fest, daß ich das Mißverständnis für das Wesen der Kommunikation halte. Es werden Fehler gemacht, und die Fehler führen zu allem. Man könnte auch Zufälle sagen, aber das Wort Fehler ist mir lieber. Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen. Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit lächerlich. Das Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.

5.10. 2011 21:59

Doku auf 3sat über André Rieder, psychisch Kranker, der sich mit Hilfe von Exit in der Schweiz das Leben nimmt. Wie zu erwarten, geht es ihm am besten von allen, Freunde und Bekannte leiden. Kein schlechter, aber auch kein guter Film. Das Entscheidende zeigen sie nicht.

In der anschließenden hochvernünftigen Diskussion – hochvernünftig in dem Sinne, daß in der ganzen Runde kein Trottel sitzt, was ich so im Fernsehen, glaube ich, überhaupt noch nicht gesehen habe – fällt das Wort Voyeurismus. Den man hätte vermeiden wollen. Vielleicht der einzige fragwürdige Satz. Denn warum nicht hingucken?

Eine halbe Stunde soll er gekämpft haben mit seinem Pentobarbital (falls es Pentobarbital war, nicht mal das sagen sie). Wobei es kein Kampf gewesen sei, wie die Gegenseite entgegnet, da von Beginn an bewußtlos. Die Frage, ob und inwieweit im Rahmen wissenschaftlicher Studien da schon Hirnstrommessungen etc. gemacht wurden, bleibt ausgespart.

5.10. 2011 22:19

Das Wort Pietät für mich immer eine ähnliche Leerstelle gewesen wie Ehre oder Seele. Im Zusammenhang mit dem Tod sowieso absurd. Auf die Gefühle der Angehörigen muß Rücksicht genommen werden, klar, und sonst? Ist der Vorgang nicht mindestens genauso interessant wie das umgekehrt oft so genannte Wunder des Lebens?

Erinnerung an den Mittelstufen-Geschichtsunterricht, Französische Revolution, die Terrorherrschaft: Das ganz und gar Unfaßbare, Unmenschliche der johlend, essend und strickend dem Schauspiel folgenden Masse.

Heute säße ich in der ersten Reihe, vermute ich, und ich glaube nicht, daß es Unmenschlichkeit wäre, die mich dazu triebe, sondern dasselbe, was mich in der neunten Klasse uneingestandenermaßen auch schon beschäftigte: Die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Darstellung der unbegreiflichen Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.

Und Pietät mein Arsch. Wenn mit Lebenden einmal so pietätvoll umgegangen würde wie mit Toten oder Sterbenden oder wenigstens ein vergleichbares Gewese drum gemacht würde. Das Schlimmste in den letzten Jahren für mich immer: Die zusammengeschrumpelte, achtzig- oder neunzigjährige Frau zwischen Chaussee- und Invalidenstraße, ein kleines Becherchen vor sich auf dem Trottoir, durchaus nicht verwahrlost, keine mitgeführten Plastiktüten, vermutlich nicht mal obdachlos. Entschließt sich zu ihrer Tat, wenn ich das richtig sehe, nur sehr unregelmäßig und im Abstand einiger Wochen, wenn das Hartz IV oder was auch immer verbraucht ist.

Für gewöhnlich gebe ich Bettlern nichts, wenn ich nicht Münzen direkt griffbereit habe, aber wegen dieser Frau mußte ich schon zweihundert Meter zurücklaufen, die zieht mir völlig den Stecker. Vor allem das Gesicht, wo man sieht: unverschuldet, Altersarmut, Hölle.

Bin mit meiner Argumentation noch nicht ganz am Stammtisch angekommen, aber die Unterkante wird schon sichtbar.

6.10. 2011 15:30

Passig und Gärtner in meiner Küche zum Lektorat. Die beiden verbünden sich sofort gegen mich, schon nach kurzer Zeit führen sie mit 8:1 bei den Änderungen, gutes Zeichen, daß ich wie in jeder Schlußkorrektur wieder versucht habe, die alten und falschen von mir selbst längst mehrfach als falsch erkannten Varianten in veränderter Form wieder einzubauen. Raus damit, raus, alles raus.

Drin bleiben auf Wunsch des Autors verschiedene Anachronismen, Unwahrscheinlichkeiten, eine Enallage. Früher hätte mir alles vom fehlenden Komma bis zum Logikfehler schlaflose Nächte beschert, ich hätte mindestens noch einen Fluglotsenstreik eingebaut, um die drei fehlenden Tage, die Michelle braucht, um dem Polen im Flugzeug begegnen zu können, zu erklären. Aber heute: scheiß drauf.

Richtige Fehler, falsche Fehler. Wenn der 23. August 1972 ein Dienstag war: Katastrophe. Wenn an diesem Tag die Sonne schien, obwohl sie nicht schien: egal.

Moleskine, Inflektiv, Schnupperpreise, ja, ja, ja. Alles egal. Mit einigem anderen haben sie mir den Perfektionismus rausoperiert.

Viel größeres Problem: Daß die Handlung keiner kapiert. Drei von fünf Lesern konnten den Amnestiker bisher nicht identifizieren, was etwa ist, als verriete ein Krimi den Mörder nicht. Das ist keine Absicht. Riesige Verschwörungstheorien auffahren, Fäden ins Leere laufen lassen und am Ende keine Lösung haben, ist nicht originell, nicht postmodern, sondern einzig und allein ein mächtiger Schmerz im Arsch.

Wahnsinnig Mühe darauf verwendet, alles wie ein Uhrwerk abschnurren zu lassen, aber Riesenproblem für jemanden, der noch nie richtig geplottet hat: die Informationsdosierung. Was sagt man dem Leser, um ihn auf die falsche Fährte zu locken, was sagt man, damit er das Gegenteil von dem annimmt, was man ihm zu insinuieren versucht, was sagt man am Ende überhaupt? Für Marcus eine zehntausend Zeichen lange Inhaltsangabe verfaßt, damit er durch den Dschungel findet.

Dafür neuer Witz: Die von Joachim vorgeschlagene Primzahlenzerlegung in den letzten Kapiteln.

7.10. 2011 19:50

Nachmittags Rowohlt, Manuskript mit den letzten drei übersehenen Fehlern persönlich zum Verlag gefahren. Dort Gunnar Schmidt und zufällig auch Fest, den ich noch nicht kannte. Lustiges Gespräch über die Sportsfreunde der Sperrtechnik. Der Sohn ist Lockpicker.

Vom Verlag zum Fußball gerast und so gut gespielt wie lange nicht.

8.10. 2011 15:07

Arbeitsfreier Tag. Schätzungsweise der erste Tag seit zwanzig Monaten, an dem ich arbeiten könnte und es nicht tue. Alles fertig. Foto und Klappenzitat abgestimmt, die Schrift auf dem Cover wird noch ausgetauscht. Foto auf Wunsch des Autors mit abgewandtem Blick.

Tee trinken, Stendhal lesen, bißchen Blog, abwaschen, Wäsche machen, Staubsaugen.

Beim Aufräumen letztes Tagebuch entdeckt, das der Vernichtungsaktion entgangen war, begonnen am 28. Mai 2004, letzter Eintrag vom 17. Dezember 2009:

„Herrn Dames Aufzeichnungen von Reventlow. Schöne Beschreibung des Kosmikerkreises zu Beginn, die Aufbruchstimmung, das Mulmige der Gesellschaft. Die Libertinage, die so fortgeschritten ist, daß sie sich selbst nicht erwähnenswert findet und ohne jede Abgrenzung gegen ein Außen auskommt. Alles im Netz zu Reventlow parallel gelesen, Fotos geguckt, Stationen ihres Lebens, Husum, Kloster Preetz – Lesegefühl wie in meinen Zwanzigern, wo ich zuletzt Heine, Dostojewskij, Storm auf diese Weise las. Der Roman flaut ab gegen Ende, zerstreut sich ins Tagebuchartige, aber die Melancholie der untergegangenen Bohème rührt mich. Draußen erster Schnee liegengeblieben. Calvin auf seinen Brief nach einem Jahr noch immer nicht geantwortet. Arbeit hängt. Fühle mich wie eingesargt. Sehe niemanden. Nachts Panik.“

Und ab in den Müll.

8.10. 2011 19:56

Auf dem Weg zu C. kleiner epileptischer Anfall, fünf Minuten, steige nicht mal mehr vom Rad. Innovation: Holms Stimme sagt Unterweser auf, im Chor dahinter Philipps Stimme.

9.10. 2011 20:35

Mit Handschuhen und Mütze zum Plötzensee, zwanzig Minuten gebadet. Lars und Marek dabei. Lange fröstelnd in der Sonne, fast wie nach dem Schlittschuhlaufen früher. Steffi und eine Kanne Heidelbeertee.

Die Zeitspanne, in der ich in die Zukunft denke, oft keine zehn Sekunden mehr, teilweise regrediert auf den Gemütszustand eines Fünfjährigen. Und nicht nur den Zustand, auch das Benehmen. Da fahre ich mit dem Fahrrad das Nordufer entlang und freue mich wie wahnsinnig über Bäume und Autos und Licht. Dann taucht am Ende der Straße eine Kreuzung auf – und dann? Oh, ein neuer Weg! Neue Bäume, neue Autos, neues Licht, welche Freude! Weitere zehn Sekunden bis zur BEHALA Westhafen – und dann? Was kommt dann? Und so geht das Schritt für Schritt.

10.10. 2011 7:30

Aufnahme im Virchow zum FET-PET. Bürokratie, noch mehr Bürokratie, endloses Herumgeirre. Haus 3, Haus 2, dann in den Fahrstuhl, in den 2. Stock, dann aus dem Fahrstuhl raus rechts, da ist eine Sitzgruppe, da anmelden. Name, Karte, Geburtsdatum, Größe, Gewicht, Vorbefunde. Wasser können Sie sich nehmen. Und da gehen Sie jetzt mal zu den Radiologen auf der anderen Straßenseite. Da lang. Nein, da lang. Den ganzen Tag.

Für jemanden mit Orientierungsschwäche ein ziemliches Problem. Fünfmal hintereinander kriege ich erklärt, auf welcher Seite des Fahrstuhls ich aussteigen muß, von wo aus gesehen da rechts ist, zuletzt drückt man für mich schon mal den Knopf mit der Doppel-0 und dreht mich an den Schultern in die richtige Richtung. Guten Tag, Dr. J., guten Tag. Und da warten Sie jetzt mal.

Wartebereich PET-CT

Radiologisches Zentrum

Feuerwehr!

Gefahrengruppe 1

Abklingraum mit Kühlzelle

01.01.25

31,41 m²

Entrauchung Anl. 9

Leichenkühlraum K-138

Scheibe einschlagen

Knopf tief drücken

Während die radioaktive Lösung in mich reinläuft, macht die Ärztin mir Hoffnungen. Ich wedle imaginäre Insekten von mir fort, nichts Hoffnungsmachendes, bitte, ich verliere sonst das Gleichgewicht. Habe mich mit dem Elend abgefunden und weiß, was es ist. Sieht ja jeder Laie.

Und das ist es dann auch. Also zweite GBM-OP.

Dann zurück zur Anmeldung, dann in die Kardiologie. Noch an ungefähr fünf weiteren Stellen Name, Alter, Größe, Gewicht und Vorbefunde. Zwei Stunden Wartezeit vor der Anästhesie, wir streiken gerade. Vielleicht wollen Sie da drüben was essen? Und in die Diagnostik müssen Sie auch noch: Alkohol, Zigaretten, Ernährung, Einkommen, ledig oder nicht? Alter, Gewicht und Größe nicht vergessen. Alles streng durchanonymisiert, wir erforschen nur, wie die Lebensumstände den postoperativen Verlauf beeinflussen. Und ob die Höllenbürokratie der präoperativen Phase den auf irgendwelchen mit August-Macke-Bildern zugekleisterten Krankenhausfluren halbtot hängenden Patienten in irgendeiner Weise schwächt, erforschen wir dann vielleicht in der nächsten Studie.

Es ist eine ganz sonderbare Verzahnung von hochmoderner Supertechnologie, Windows-98-Rechnern und einer aus dem 19. Jh. stammenden Buchenholzzettelkastenverwaltung, die einen in jeder Sekunde in den Wahnsinn treibt.

Schon mal Drogen genommen? „Nein“ kann ich guten Gewissens nicht ankreuzen. Sofort spuckt der Rechner tausend Folgefragen aus, die erforschen wollen, wie sehr ich meinen Angehörigen mit meiner unkontrollierten Kokssucht auf die Nerven falle, was ich dagegen zu unternehmen gedenke und wie meine Einstellung zu frischem Obst ist. Bitte schieben Sie den Regler auf eine Zahl zwischen 1 und 5.

Name: Wolfgang Herrndorf
Größe: 183
Gewicht: 80
Status: ledig
Geschlecht: männlich
Einkommmen: riesig

Alles gewissenhaft verschlüsselt unter der Kennziffer GG4674. Wenn man mir bitte mal bei nächster Gelegenheit einen Chip mit meinen persönlichen Daten unter die Haut schießen könnte.

Zurück in der Anästhesie beantworte ich die Fragen nach Größe, Alter und Gewicht zum letzten Mal für heute. Dann versuche ich den Weg zur Station allein zurückzufinden. Man darf sich von den häßlichen roten Bildern nicht täuschen lassen, richtig sind die häßlichen orangen.

OP-Termin nächster Mittwoch. Und jetzt nach Hause.

11.10. 2011 13:46

Noch einmal das seltsame immer wieder und m.E. immer gleich während des Anfalls im Kopf herumgehende Lied durch Aufschreiben festzumachen versucht:

under while längst
sonder surprised

Von Klang und Rhythmus her nicht weit entfernt von „An der Weser, Unterweser“. Aber keine Ahnung. Ich krieg’s nicht raus.

Falls doch nochmal irgendwas wie „Jesus Christus hat die Welt erlöst“ erkennbar wird, melde ich mich wieder.

12.10. 2011 14:44

Tschick jetzt Schullektüre auf Costa Rica, Bilder einer blauuniformierten Klasse, die unter Palmen sitzt und liegt und liest.

In Baden-Württemberg dagegen läuft der Buchverkauf so schleppend, daß jugendliche Straftäter zur Lektüre verurteilt werden müssen: Buch kaufen, lesen, fünfseitige handschriftliche Inhaltsangabe, und falls das nicht klappt, „kann ich bis zu vier Wochen Ungehorsamsarrest verhängen“. Richter Hamann, Amtsgericht Reutlingen.

Unglaublich gelacht beim FAZ-Interview. Monika Kunz? Wer ist Monika Kunz? Mußte ich mir erstmal von Cornelius erklären lassen.

13.10. 2011 14:30

Acht oder neun Grad, Sonne scheint, gebadet. Lars und Julia schaffen es bis zum anderen Ufer.

15.10. 2011 12:02

„Middlesex hat viele postmoderne Elemente; es gibt viele Signale, dass die Geschichte vom Erzähler erfunden wird, aber kein unmissverständliches Bekenntnis zum Realismus. Die Liebeshandlung ist in viel höherem Maß ein realistischer Roman, hat aber einen dekonstruktivistischen Subtext. Aber ich bin gern ein Rekonstruktivist, wenn das bedeutet, dass ich immer noch Geschichten darüber schreibe, wie Menschen heute leben und fühlen.“ Sagt Jeffrey Eugenides. Und fährt fort: „Wenn Rekonstruktivist hingegen einen Autor meint, der so tut, als hätte es das 20. Jahrhundert nicht gegeben, dann will ich keiner sein. Ich will den narrativen Pool des 19. Jahrhunderts zurück, aber nicht das 19. Jahrhundert.“

Im Gegensatz zu mir hat er vermutlich studiert. Aber Signale, daß die Geschichte vom Erzähler erfunden wird – Wahnsinn. Was werden sie als nächstes herausfinden?

16.10. 2011 14:45

Eine Sache, die ich trotz hundertmaliger Stendhal-Lektüre wieder vergessen hatte: Die Travis-Bickle-Szene, der Bischof von Agde segnet den Spiegel. Zur Zeit des späten Goethe, unvorstellbar.

18.10. 2011 12:45

Mit der schweren Tasche auf dem Fahrrad ins Virchow-Klinikum. MRT für die OP, dann Vierbettzimmer. Der links fragt, ob ich auch ein Bier will, der gegenüber gibt für den Rest des Tages das Fernsehprogramm telefonisch an seine Frau durch. Liege nur rum, kann nichts machen.

19.10. 2011 11:00

Auf Tag und Uhrzeit genau folgt der ersten OP nach zwanzig Monaten die zweite. Wieder kein Beruhigungsmittel, bitte, ich will das sehen, die Gesichter, die Lampe, die Maske auf meinem Gesicht. Tief atmen.

Dann ist die Maske weg, und es sieht aus wie auf dem Jahrmarkt. Großes Gepiepse und Geblinke und Gerenne. Die Intensivstation, wie sich rausstellt, ist überbelegt, das hier nennt sich Aufwachzimmer. Die ganze Nacht über, die in Wahrheit ein Nachmittag ist, bin ich damit beschäftigt, vorübereilende Pfleger und Schwestern um Wasser anzubetteln. Immer wieder die Frage, ob ich wisse, wo ich sei. Einmal sage ich Buchenwald, aber der Witz zündet nicht richtig.

Ein Weißbekittelter meldet, es sei alles wunschgemäß verlaufen, dann tauchen der Reihe nach C., Kathrin und ein (wie sich später erweist) eingebildeter Cornelius auf, die sich abwechselnd als meine Lebensgefährten vorstellen, um eingelassen zu werden.

C. möchte nicht mit einem Hut verwechselt werden, Kathrin hat eine Pappschachtel im Arm, deren Inhalt sie mir nicht zeigt. Und jetzt vielleicht noch mal Wasser, bitte?

In der SZ wird später stehen, Passig habe die Bronzefigur uninspiriert entgegengenommen, und auf die Frage irgendeines Radios, ob dies der richtige Zeitpunkt für die Verleihung gewesen sei, weiß sie nichts zu sagen.

„Letztes Jahr“, erklärt sie, „als der Preis verliehen wurde, gab es Tschick noch nicht. Nächstes Jahr, wenn der Preis verliehen wird, wird es den Autor wahrscheinlich nicht mehr geben … insofern, ja, geradezu der ideale Moment. Aber das ist mir wie immer erst eine Minute später eingefallen.“