Dreizehn

17.1. 2011 12:09

Traum: Ich habe eine vier- oder fünfjährige Tochter, der ich sagen muß, daß ihre Mutter im Gefängnis ist. Ich versuche es ihr mit einem Gedicht zu erklären, aber der Reim in der letzten Zeile verlangt hartnäckig das Wort „tot“. Tags zuvor Sylke Enders‘ Mondkalb gesehen.

Randy Pausch gegoogelt.

Fast täglich Dschungelcamp. Die Überraschung, daß man ein Dutzend Menschen casten kann, inmitten dessen Rainer Langhans der mit Abstand Vernünftigste ist.

Auch das ein Schritt in Richtung Normalität. Im Frühjahr noch verursachte Heidi Klum im Fernsehen mir Todesangst. Nicht polemisch jetzt oder als lustige, feuilletonistische Übertreibung, sondern tatsächlich: Todesangst, nackte Angst, das nutzlose Verrinnen der Zeit. Mußte ich sofort wegschalten. Und weiß auch nicht so genau, wie ich das finden soll, daß es jetzt wieder anders ist.

21.1. 2011 20:29

A. angerufen. Stimme nicht wiedererkannt, Person nicht wiedererkannt. Komplett in die Esoterik abgedriftet, zutiefst deprimierend. Immer noch der Text von der Suche und der mit Spannung erwarteten anderen Welt. Sie spricht mit Tieren, und die Tiere sprechen mit ihr. Teilen ihr mit, daß sie vom Treiben der Menschen auf diesem Planeten genug haben. Liebe meines Lebens, schönste Frau der Welt.

Ich könnte mir jetzt in den Kopf schießen, wenn ich das nicht eh schon könnte.

23.1. 2011 13:09

Lektüre: Madame Bovary. Mit Anfang zwanzig mal gelesen und nicht kapiert. Im Vergleich zu Stendhal langweilig gefunden. Jetzt völlig begeistert die ersten hundert Seiten gelesen. Die nach Dogma-Prinzipien abgefilmten Details am Wegesrand: ungeheure Zeitmaschine. Und dann, wenig später, langweilt es mich schon wieder, und ich muß aufgeben. Seit der OP durch fast kein Buch mehr durchgekommen. Immer mit Begeisterung rein und dann den Faden verloren. Was gut ist, ist sowas wie Lolita, das funktioniert noch. Eine Literatur, die nicht nur nicht langweilig ist, sondern in jedem einzelnen Satz nicht langweilig. Bei allem anderen drifte ich weg.

In der Times mal über Cormac McCarthy gelesen: „He doesn’t rate anyone who doesn’t ‚deal with the issues of life and death‘. Writers like Proust and Henry James? ‚I don’t understand them. To me, that’s not literature.'“

26.1. 2011 17:30

Kopfschmerzen, Übelkeit, schließlich Zittern und Angst. Wovor? Unklar. Nicht vor dem Tod. Vor den Schmerzen? Davor, nicht mit der Arbeit fertig zu werden? Kann’s nicht zuordnen. Schachverabredung abgesagt. C. kommt vorbei und hält meine Hand.

27.1. 2011 6:19

Aufgestanden, Schwimmen gegangen. Es ist noch dunkel, als ich wieder aus dem Schwimmbad komme. Es schneit.

Seit zwei, drei Wochen arbeite ich wieder jeden Tag. Nicht so effektiv wie an Tschick, aber ich fange morgens an und höre abends auf. Mehr geht jetzt nicht. Das zentrale Kapitel, in dem der Psychologe den Amnestiker verhört, an dem ich wochenlang rumgeschraubt habe, liegt endlich hinter mir. Es ist nicht wirklich gut, aber besser krieg ich’s jetzt nicht hin. Kann Passig noch den Quatsch rausstreichen, wenn sie will.

Im Moment heißt der Roman Sand. Liste verworfener Titel (in der Reihenfolge: Nüchterne, Supermarktkassenbestseller, Hochkultur, Parodien, Seventies, mit Gewalt und Too much):

WÜSTENROMAN
AMNESIE
SAND
GEHEIMSACHE SAND
ZWISCHENFALL AN DER OASE TINDIRMA
IM SALZVIERTEL
DER FALL SAND
DIE URANOASE
HERZ AUS SAND
SAND DER SEHNSUCHT
AM ENDE DER FATA MORGANA
SÖHNE DES SANDES
TOD IN DER SANDUHR
DIE HÖLLE IST GELB
SCHLOSS AUS SAND
DER GESANG DES SANDES
WO DER SAND WOHNT
DAS SANDKORN ALLAHS
SPUREN IM SAND
SUREN IM SAND
SAND IN DER SAHARA
NUR DIE SONNE HÖRT MEIN SEUFZEN
DIE SANDMASKE
DIE ERINNERTE WÜSTE
WÜSTEN DES ZORNS
STRAND OHNE MEER
UNTER DÜNEN
VERGESSENER SAND
DIE WÜSTEN DES BÖSEN
DAS WÜSTE DENKEN
DER LETZTE SAND
IN PLÜSCHWÜSTEN
FÜR EINE HANDVOLL SAND
DIE WÜSTE DES REALEN
SCHULD UND DÜNE
IN WÜSTEN NICHTS NEUES
EIN SANDKORN ZUVIEL
SANDIGE GITARREN
DER GLÄSERNE SAND
DER SANDWOLF
WELT ALS WÜSTE UND VORSTELLUNG
DER WILLE ZUR WÜSTE
SIE NANNTEN IHN SAND
SAND OHNE EIGENSCHAFTEN
WANDERDÜNE, SPÄTER
DER MANN, DER AUS DER HITZE KAM
MÄNNER, MIEZEN UND MUSLIME
DICKE LUFT IN DER SAHARA
EIN KAMEL ZUM KNUTSCHEN
KOYOTEN LÜGEN NICHT
TODESTANGO IM TREIBSAND
DAS ULTRAZENTRIFUGENMASSAKER
DAS AFRIKANISCHE ULTRAZENTRIFUGENMASSAKER
DIE WÜSTE KENNT KEIN ERBARMEN
DIE FARBE DER HÖLLE
WÜSTE OHNE WIEDERKEHR
SÄRGE AUS SAND
DAS SANDIGE GRAB
WÜSTEN DES WAHNSINNS
DÜNE DES GRAUENS
DIE UNSICHTBARE FATA MORGANA
1 SANDKASTEN SO GROSS WIE DIE HÖLLE
OASE DES WAHNSINNS
MASSAKER DES GRAUENS
1000 GRAD IM SCHATTEN
FÜR EINE HANDVOLL URAN 235

Gibt wahrscheinlich nichts, was billiger wäre in der Fiktion zur Spannungserzeugung als Totalamnesie. Aber ich dachte, man muß mit einfachen Mitteln arbeiten, wenn man schwierige nicht beherrscht.

29.1. 2011 19:05

Briefe zerrissen, in der Badewanne eingeweicht, mit Tinte übergossen und entsorgt. Die schlimmsten Briefe meines Lebens. Hatte damals Kopien gemacht, weil ich wußte, daß sie mir eines Tages schwer im Magen liegen würden. Einen aufgemacht, der mit dem Satz begann: „Ich bin nicht verrückt.“ 1987. Die Hölle.

30.1. 2011 21:20

Tischtennis im Soho-House. Sascha ist Mitglied und nimmt uns mit rein. Empfangstresen ein Baustellengerüst mit rohen Brettern wie in den illegalen Kneipen, die es hier an gleicher Stelle vor 15 Jahren überall gab und von denen meines Wissens keine übrig ist. Am Fahrstuhl kommt einem als erstes Moritz von Uslar entgegen. In der Lounge oben schöne, entspannte Atmosphäre, und mein Kleinbürgerhaß auf diese Leute, die 100 Euro im Monat zahlen, um an zwei Kaminfeuern sitzen zu können, ist ungebrochen groß.

1.2. 2011 23:34

Morgens Kopfschmerzen, zu schlapp zum Arbeiten, zu schlapp zum Aufstehen. Ausgebrannt. Stundenlanger Spaziergang ums Schloß Charlottenburg.

Lektüre: Kästners fliegendes Klassenzimmer (1933). Merkwürdige Rahmenerzählung mit einem Ochsen. Aus der Verfilmung erinnere ich jedes Bild, Spannung kommt nicht auf, kein Plot. Wikipedia erklärt Kästners Erfolg im Kontrast zu den „aseptischen Märchenwelten“ der damaligen Jugendliteratur; daraufhin noch mal Pik reist nach Amerika (1927) gelesen. Das Buch, das ich neben Rot und Schwarz wahrscheinlich am häufigsten in meinem Leben gelesen habe. Besser. Bessere Sprache, bessere Dialoge, viel rasantere Handlung. Jedenfalls die ersten zwei Drittel. Das Happy End etwas gewollt. Antiquarisch ist das Buch noch zu haben, über den Autor Franz Werner Schmidt weiß Google nichts. Hat der später noch Konzentrationslager geleitet oder liegt’s am Allerweltsnamen? Und möchte das Buch nicht mal jemand wieder auflegen?

7.2. 2011 12:45

Im Flugzeug nach Fuerteventura. Unter uns der Atlantik. Neben mir Philipp, Kathrin und Sascha. Dann die Inseln, kreisrunde Vulkankrater. Aufbruchsstimmung und Beunruhigung halten sich die Waage. Wichtigste Frage nach der Ankunft: Wo ist das W-Lan?

8.2. 2011 8:20

Traum: Auf der Oberfläche der Sonne verursacht eine von der Erde ausgesandte Sonde eine Störung. Zuerst sieht man nur einen kleinen schwarzen Fleck, der sich aber rasch ausbreitet. Schließlich erlischt die Kernfusion auf der Sonne ganz. Mit C. suche ich im Dunkeln nach Kerzen, aber sinnvoll scheint das nicht. Es kann nur noch Tage oder Stunden dauern, bis die Temperatur auf diesem Planeten für immer bei minus 273 Grad angekommen ist, da helfen Kerzen jetzt auch nicht weiter. Wir resignieren.

Vor Sonnenaufgang gebadet, nur 15 Meter zum Meer. Man muß ein bißchen aufpassen, daß die Brandung einen nicht auf Felsen wirft. Beim Tauchen zwei unterschiedliche Sorten Fische gesehen.

10.2. 2011 19:00

Ausflug zum Surferstrand, vier Meter hohe Wellen rollen auf den Strand. Man versucht, ins Meer reinzulaufen und wird wieder rausgeschleudert, ein großer Spaß. Die Unterströmung so stark, daß es einem die Beine wegzieht. Passig: „Da, wenn sie die rote Fahne aufziehen, müssen wir alle sterben … ja, du lachst.“

12.2. 2011 12:13

Den dritten Tag hintereinander starke Schwummrigkeit. Kann nicht arbeiten. Gestern noch krampfhaft Satz für Satz unter die Datei gestrickt, aber während ich schreibe, weiß ich nicht, was weiter oben im Absatz steht, teilweise nicht, was im vorigen Satz steht.

Heute sechs oder sieben Meter hohe Wellen. Auf einmal saugt es mich raus, weit entfernt vom Strand schlucke ich Wasser und gerate in Panik. Aber dann spült es mich auch wieder zurück. Sehr unheimlich, dieses Meer. Der jährliche Bodycount auf den Inseln ist dreistellig.

14.2. 2011 15:11

Schon beim Frühstück der mit Spannung erwartete Goetz-Text, Sascha gibt das iPad rum, Enttäuschung. Man will ja das hören, was man kennt, und dann hört man: „In dieser Hinsicht sind die Tagebücher von Pepys keine einfache Lektüre.“ Als hätte er seine Apparate für das Projekt Journalismus komplett runtergefahren. Gleiches Gefühl wie bei seinem Auftritt bei Harald Schmidt, wo er seine aus der Unmittelbarkeit der Rede kommende Schriftsprache selbst nicht spricht. Oder der Spiegel hat ihm alles wegredigiert, keine Ahnung. Aber was sind denn das für Sätze? „Das Begleitbuch zur jetzt vorliegenden Gesamtausgabe von Pepys‘ Tagebüchern, der sogenannte Companion, informiert über historische Hintergründe …“

15.2. 2011 11:37

Endlich das Kapitel abgeschlossen, in dem Michelle dem Amnestiker die Tarotkarten legt und sein Ende vorhersagt. Ich weiß nicht, ob das außer mir noch jemand komisch findet. Aber wenn mich irgendwas im Leben wirklich aufgebracht hat, dann das gegen jedes Denken, jeden Gedanken und jede Aufklärung immune Gefasel von Sternzeichen, Rudolf Steiner und extravaganten Ahnungen fremder, unbegreiflich tröstlicher Welten. Freundschaften sind mir deswegen zerbrochen. Ich kann dem schon lange nur noch begegnen durch Affirmation, Affirmation als Rache. Alles, was Michelle vorhersieht, trifft genau ein. Die Zukunft ist düster. Der Held stirbt. Die Dummheit siegt.

20.2. 2011 15:41

Wenn ich bei der Arbeit in Gedanken von meinem Rechner aufschaue, bin ich immer geneigt, die Wolkenbank am Horizont für einen Tsunami zu halten. Heute über Nacht hat eine Flutwelle den Holzsteg, der dreißig, vierzig Meter über den Strand führt, abgerissen und weggeschwemmt. Es ist Vollmond. Einmal täglich wirft eine große Welle die Sonnenbadenden kreischend zur Seite.

21.2. 2011 9:18

Arbeite wieder wie eine Maschine. Täglich vor Sonnenaufgang ins Meer, dann Arbeit, ab vier oder fünf Uhr Feierabend. Lektüre: Schuld und Sühne.

25.2. 2011 17:22

Liege mit Passig in den Dünen zwischen schwarzem Lavagestein und schaue auf die Wellen. Gespräch über den Tod und das Nichts. Habe den Eindruck, mich ganz unverständlich auszudrücken, und überlege, Passig zu bitten, in dreißig, vierzig Jahren auf dem Sterbebett noch einmal an mich und diesen Tag in den Dünen zurückzudenken. Vielleicht, daß es dann verständlicher ist. (Sie bestreitet es.)

27.2. 2011 4:13

Traum: In unserm Ferienbungalow stehend schwerer Anfall von Inexistenz. Ich bin nicht mehr da, und auch die Gegenstände um mich herum nicht. Ich sehe Passig durch die Tür kommen, hinter ihr der Schatten einer zweiten Frau. Ich versuche, mich ihnen durch angestrengtes Atmen bemerkbar zu machen, vergeblich. Schließlich schwebe ich, die Knie in der Luft und beide Arme über der Brust gekreuzt wie ein ägyptischer Pharao, auf sie zu und sage: Ich wollte nur, daß du mal siehst, wie sich das anfühlt, das Nichts. Das ist es. Und daß sie keine Angst vor mir haben muß. Wenn ich ihr etwas antun wollte, risse es meinen Körper fort von ihr, wenn er auf sie zuschwebe, sei ich harmlos.