Neun

6.10. 2010 23:55

Onkel Boonmee gesehen, Gewinner von Cannes. Man sieht, wie einer vier Minuten duscht, und er gehört weiß Gott nicht zu den interessanten Duschern. Artsy-fartsy Thailand. 1 Punkt, weil ich weinen mußte, als der Tote reinkam. Das Beste: Man fühlt sich wie mit sechzehn, als man so was bis zum Ende guckte und dann noch darüber nachdachte, was es zu bedeuten hätte.

Anschließend Lektüreempfehlung von Christoph, Der Tod und der Kompaß von Borges, angeblich die beste Kriminalgeschichte der Welt. Lese sie und fühle mich erneut, als hätte ich den Schuß nicht gehört. Ein Kommissar, der mit Hinweisen zu seiner eigenen Ermordung gelockt wird? Ja?

8.10. 2010 16:07

Drei Wochen ist Tschick raus, und in keiner Buchmessenbeilage und keiner Zeitung. Es ist mir nicht so gleichgültig wie früher.

8.10. 2010 20:00

Fußball in der Halle. Nachdem wochenlang jeder Direktpaß von mir beim Gegner landete, geht’s heute wieder. Weiß nicht, ob es an der Hallensituation liegt oder ob in meinem Hirn irgendwas sich regeneriert. Denn eigentlich muß man dazu aus den Augenwinkeln sehen können. Körperlich insgesamt wahnsinnig fit.

10.10. 2010 14:56

Ich gebe keine mündlichen Interviews mehr, aber für die bulgarische Germanistin Jelenia Gora würde ich noch mal eine Ausnahme machen.

10.10. 2010 16:56

Passig nennt das, was ich da schreibe, Wikipedia-Literatur. Neues, sinnlos mit Realien überfrachtetes Genre, das sich der Einfachheit der Recherche verdankt. Rechtfertige mich damit, daß das meiste ja doch erfunden ist.

Vor zwei, drei Jahren auch schon mal angefangen, Sachen in die Wikipedia reinzuschreiben, die in meinem Roman vorkamen. Entweder die Fiktion paßt sich der Wirklichkeit an oder umgekehrt. Den Vorwurf der Schlampigkeit will man sich ja nicht gefallen lassen.

11.10. 2010 19:38

Rayk Wieland schreibt mir, er habe in einer alten Kosmogonie einmal die Abbildung des Nichts gesehen: ein schwarzes, mit Kritzelstrichen ausgemaltes Rechteck, an dessen Seiten jeweils „ad infinitum“ geschrieben war.

12.10. 2010 11:00

Der Wunsch, tot zu sein, zum ersten Mal von keiner Unruhe begleitet.

13.10. 2010 15:40

Korrekturen für die zweite Auflage von Tschick telefonisch an Marcus. Können aber wahrscheinlich nicht eingearbeitet werden, da sie sofort losdrucken müssen. Dann vielleicht in der dritten.

Die SZ (Seibt) kostet mich eine Runde Bier: erste Rezension ohne Salinger.

14.10. 2010 5:32

Dritter Tag der Chemo (letzter Zyklus), und zum ersten Mal muß ich kotzen. Und dann auch gleich richtig und die ganze Nacht, am Ende kommt Blut. Halte verzweifelt Ausschau nach den teuren Medikamenten, aber nach sechs Stunden im Magen ist das von einer Konsistenz, daß es auch härtere Leute als ich nicht mehr auf den Speiseplan setzen würden.

14.10. 2010 19:46

Verlorener Tag. Zum Arzt gefahren für neues Rezept, außerhalb der Sprechzeiten angekommen. Dosis für heute hab ich glücklicherweise noch. Liege den ganzen Tag schlapp in der Gegend rum mit dem Finger auf Reload bei amazon. Mein kleiner Lada ist in Schlangenlinien am Buchpreis-Chevrolet rechts vorbei, Vargas Llosa liegt längst hinter ihm, vor ihm jetzt die Untiefen aus Vampiren, Gesetzbüchern und Wanderhuren. Ich glaube nicht, daß er noch weit kommt, aber wenn er vor Natascha Kampusch eine respektvolle Vollbremsung einlegt, ist das okay.

19.10. 2010 11:56

Der Arzt im Traum sagt: drei oder vier Jahre.

Nach einer Woche chemischer Keule zum ersten Mal einigermaßen aufgewacht heute.

20.10. 2010 7:16

Fahre vor Sonnenaufgang nach Hause, es regnet. Arbeit bei offenem Fenster mit voll aufgedrehter Heizung, meine Reste von Naturerlebnis.

Heute vor 24 Jahren Fahrt an den Westensee, um A. zu zeichnen, nachdem ich ein Jahr lang oder länger Tag für Tag und Stunde für Stunde auf ihren Anruf gewartet hatte. „Ich meld mich mal.“ Ja, am Arsch.

20.10. 2010 22:00

Erster Besuch in einem regulären Schwimmbad seit dem Zivildienst. Alles sehr schön und sonderbar.

21:10. 2010 20:15

Zum Yoga hat C. was rausgesucht, was ihrer Meinung nach nicht esoterisch ist. Wenn das nicht esoterisch ist, möchte ich mal sehen, wie’s bei den Abgedrehten zugeht. Die Anweisungen, sich wegzuatmen und leer zu machen von allem, kollidieren fundamental mit meiner Selbsthypnosemaschine im Innern. Noch leerer werden als ein Toter, schwer möglich. Allerdings ist es eine gute Gymnastik.

24.10. 2010 9:56

Die letzten Tage krampfhaft versucht, die Lücke in meinem Blog zu schließen. Die Beschreibung des Irrseins macht mich wieder irre. Erwachend nicht mehr an den Tod denken können; lautlos schießt es den Gedanken weg. Mitteilung an C. gemacht, damit sie aufpaßt.

Dabei erst jetzt den schon früh in meinen Notizen auftauchenden und beim Schreiben der HaShem-Rückblende verwendeten Satz bemerkt, die Störinstanz zeige sich „am liebsten im Schutz anderer, positiver Gedanken“. Man wird mir vorwerfen, ein zu mechanistisches Bild des menschlichen Geistes zu haben, aber die partielle Amnesie, das beständige und unkontrollierte Herausgelöschtwerden jedes positiven Gedankens aus mir: offenbar ein Kollateralschaden der Walther.

Notiz an mich selbst: nächstes Mal besser zielen.

24.10. 2010 17:21

Lektüre: Lenz. Mein Einwand gegen die Erzählung der gleiche wie vor zwanzig Jahren: Die poetische Einfühlung in das Kranke. Die berühmte Stelle, Lenz wolle auf dem Kopf laufen, kauf ich nicht, zu offensichtlich-gewollter Ausdruck der Verkehrtheit. Später Lenz‘ Angst im Dunkeln, er hätte der Sonne nachlaufen mögen: nein, hätte er nicht.

Und natürlich kriegt mich der Text dann doch; über die Sprache, die Natur, die Unruhe und den sich aufsummierenden Irrsinn. Am Ende beim Lesen eine Gänsehaut. Hab ich, glaub ich, auch noch nie gehabt.

25.10. 2010 19:52

Lektüre: Aquis submersus. Puh.

In einem Anfall tiefer Verzweiflung C. gegenüber mein Innenleben ausgebreitet. Standardisierter Absturz, wenn ich eine Weile nicht gearbeitet habe.

26.10. 2010 9:33

Traum: Mit Bettina Andrae in einem chaotischen Zigeunerlager auf der Suche nach Dan Richter. Bemerke im Halbschlaf, daß ich keinen Grund habe, Dan zu suchen, den ich kaum kenne, und in Wahrheit den Richter suche; mit dem ich telefonierte und dessen Konzept von Arbeit und Struktur mir in den letzten Tagen entglitten ist.

28.10. 2010 10:12

Traum: Ich bade mit meiner Mutter in einem Tümpel, in dem eine riesige, meterlange Blindschleiche herumschwimmt. Meine Mutter fordert mich auf, Panzerangriffsgeneral Guderian um Hilfe zu bitten; was ich tue.

Gestern das Ladegerät bei C. vergessen: Der Tag beginnt mit einer einstündigen Fahrradtour. An der Spree die Bäume schon fast kahl. Meine Sentimentalität angesichts der Frage, ob sie noch einmal grün werden, hält sich in Grenzen angesichts des Entschlusses, demnächst noch mal nach Griechenland oder Portugal zu fahren, oder wo immer Sommer ist. Oder wenigstens ans Meer.

1.11. 2010 20:28

Noch mal Unmengen Zeichnungen weggeworfen. Ich kann im Studium tatsächlich nicht so faul gewesen sein, wie ich immer dachte. Die Wochen, Monate, Jahre Arbeit, die da drinstecken, soll man sich da im nachhinein Gedanken machen? Das eigentliche Problem jener Zeit, von dem es keine Aufzeichnungen gibt: mein inexistentes Sozialleben. Wenn ich in den Semesterferien manchmal drei Monate mit keinem Menschen sprach außer der Supermarktkassiererin.

2.11. 2010 13:20

In den Neunzigern mal sehr begeistert Kempowskis Sirius gelesen, jetzt in Somnia reingeguckt, entsetzt. Der Lustigkeitshumor, der Stolz auf die eigene Kleinkariertheit und zwischendurch immer wieder ein schlimm gealterter Anti-PC-Reflex. Neger, Frauen, man will es nicht wissen.

2.11. 2010 13:30

Dr. Vier erklärt Verreisen und Schwimmen für unbedenklich. Epileptische Anfälle seien bei mir eher nicht zu erwarten, da bisher und auch initial nicht aufgetreten. Aller Wahrscheinlichkeit nach beginnt der Tod mit Kopfschmerzen.

3.11. 2010 17:03

C. am Telefon: „Lebensunfähig, träge, dachte vorhin, ich geb alle Ziele auf, die ich habe, bis mir einfiel, ich hab ja gar keine.“

Bekomme jeden Tag Briefe und Karten, die ich nicht mehr beantworten kann. Grüße an dieser Stelle.