Rückblende, Teil 7: Die Weltformel

Was weiter geschieht an diesem 6. März, läßt sich aus Aufzeichnungen, Erinnerungsfragmenten und Berichten von Freunden mit einiger Mühe rekonstruieren.

Zwischen den Notizen „Copy Shop und Ende, 7:42” und „Alles ausanalysiert und ready to go: 14:20” liegen knapp sechs Stunden, in denen ich vermutlich in meiner Wohnung herumgehe, lese, schreibe und nachdenke.

Was mich verwirrt und worauf meine Gedanken immer wieder zurückkommen, ist, daß die gefundenen Trostformeln sich überhaupt nicht mit meiner Angst vorm Tod beschäftigen, sondern mit der Angst, nicht geliebt zu werden; weshalb ich in einfältigen, starren Gedankenketten immer wieder die Zuneigung meiner Freunde zu mir logisch herleiten muß.

Ich lese den Wikipedia-Artikel zum Thema Narzißmus und komme zu dem Ergebnis, daß es sich in Wahrheit überhaupt nicht um unterschiedliche Ängste handelt, sondern um eine einzige: Der Tod ist schließlich nichts anderes als die Mitteilung des Universums an das Individuum, nicht geliebt zu werden, die Mitteilung, nicht gebraucht zu werden, dieser Welt egal zu sein.

Diese Erkenntnis ist ungeheuer befriedigend. Um 15:14 Uhr verfasse ich eine Mail an Jochen, um ihn gesondert für den Abend einzuladen, weil ich spüre, daß er mit seinem Narzißmus an meinem Zustand am dichtesten dran ist. Ich fürchte, meine Verrücktheit könne ihn anstecken, und ahne die Gefahr, ihn als auf die Ironie angewiesenen Lesebühnenautor dieser Ironie für immer zu entfremden. So wie ich mich ihr für immer entfremdet habe.

Gleichzeitig plane ich, meine Rede, die mittlerweile den Titel „Narzißtische Persönlichkeitsstruktur und Todesangst – Vortrag von Wolfgang Herrndorf” trägt, mit einem Nachruf auf Salinger zu verquicken und alles an Ijoma Mangold zu schicken. Salinger, weil ich mich über die kenntnislosen Nachrufe der letzten Wochen entsetzlich geärgert habe; und Mangold, weil ich sonst niemanden kenne aus dem Feuilleton.

Um 17:01 sitze ich in dem Restaurant Kamala in der Oranienburger Straße und habe von der großen Rede noch immer kein Wort geschrieben, was mir angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich nun unterwegs bin, wenig Kopfzerbrechen bereitet. Während ich aufs Essen warte, schreibe ich probeweise eine Seite in mein Moleskine, und die Sätze schießen nur so heraus. Kontrollblick: makellose Prosa. Blick auf die Uhr: noch immer 17:01. Ich rechne das Tempo, in dem ich jetzt arbeite, hoch auf alles andere und stelle fest, daß ich meine angefangenen Romanprojekte alle zu Ende schreiben kann. Wenige Monate reichen. Bilder meiner kurzen, aber glanzvollen Karriere ziehen vor meinem inneren Auge vorüber. Ich teile mir die Minuten ein, die ich noch habe, bis ich mich um halb acht auf den Weg zu Holm machen muß. Vorher muß ich auch noch Haareschneiden und Blumen kaufen. Und die Rede schreiben. Aber es ist so unendlich viel Zeit jetzt; und ich bemerke, daß ich in die Zukunft sehen kann.

Nicht in dem Sinne, in dem Verrückte in die Zukunft sehen, weil sie sich Fähigkeiten einbilden, die sie nicht haben, aber im Sinne E.A. Poes: durch meine rasend beschleunigte, geschärfte Verstandeskraft und mein Vermögen, die vorhandenen Fakten durch rationale Schlüsse blitzschnell, logisch und folgerichtig in die Zukunft zu verlängern, erkenne ich einfach, was als nächstes geschieht.

Unter der Überschrift „Voraussagen für die Zukunft 6.3. 2010” notiere ich:

1. Ich werde einen Beweis schreiben, daß es Gott nicht gibt auf der Grundlage der Annahme, daß Jesus Gottes Sohn ist.

2. Während dieser Rede (oder davor) wird jemand den Raum verlassen. Einschränkung: Diese Voraussage wird evtl. verhindern, daß es geschieht.

3. Ich gewinne den Nobelpreis, beschimpfe die Mitglieder der Akademie und die von ihnen ausgepreisten Schriftsteller als academy of incapable and forgotten (in leider nur sehr schlechtem Englisch) und grüße Don DeLillo.

4. Ich werde eine Analyse der Richtigkeit der Kindererziehung in Asien schreiben.

Von allen Punkten am sonderbarsten wirkt vermutlich der letzte; aber ich sitze zu diesem Zeitpunkt noch immer im Kamala, beobachte die Gesichter der asiatischen Bedienungen, den von mir schon immer bewunderten, großartigen, eleganten, zurückhaltenden und freundlichen Schnitt ihrer Physiognomien, und ich weiß, daß da bei der Kindererziehung in Fernost einfach irgend etwas fundamental richtig gemacht wird. Was man mal untersuchen müßte. Diese Untersuchung scheint mir sogleich sehr viel wichtiger und bedeutsamer als die Arbeit an meinen Romanen, und es kommt mir vor, als würde ich den Literaturnobelpreis doch nicht gewinnen. Aber dann vielleicht den Friedensnobelpreis. Egal.

Zu Hause stürze ich mich kopfüber in die große Mülltonne im Hof auf der Suche nach den aus dem Moleskine herausgerissenen Seiten, die ich bei Holm als Anschauungsmaterial für die kuriosen Vorgänge in meinem Hirn durch die Luft schwenken will. Leider kann ich sie nicht mehr finden. Aber duschen muß ich nun. Und Haareschneiden will ich auch noch. Ich merke, daß ich mich etwas verspäten werde und rufe bei Holm an, daß ich mich verspäte. Dann rufe ich bei Holm an und frage, welche Blumen die Dame des Hauses bevorzugt, denn ich will ihr unbedingt Blumen mitbringen (Tulpen, Farbe egal). Und dann rufe ich nochmal an und sage: „Ich habe die Weltformel gefunden.“