Rückblende, Teil 3: Ein Telefonat

Am auf diese Nacht folgenden Morgen die Möglichkeit zur Entlassung aus dem Klinikum Friedrichshain. Natascha und Stese sind zufällig da und können mich nach Hause begleiten. Ein merkwürdiger Anblick, die Mädchen meine Tasche tragen zu sehen. Schließlich nehme ich sie doch selbst.

Meine Eltern haben ein DVB-T-Gerät gekauft, damit ich fernsehen kann. Auf dem aufgeräumten Küchentisch ein Päckchen Zwieback: Du gehst doch jetzt in Chemotherapie.

Das erste, was ich zu Hause mache: ich öffne die Dateien zum Jugendroman, um zu schauen, ob von da aus gestartet werden kann. Ob der Anfang geht, ob die Sprache geht, ob ich in meinem jetzigen Zustand dem Text überhaupt noch etwas abgewinnen kann. Die letzten zwei Jahre hab ich praktisch nur über dem Krimi gesessen. Das erste, was ich sehe, ist die Eintragung, wann ich Idee zu dem Jugendroman hatte: am 1. März 2004. Auf den Tag genau vor sechs Jahren. Ich glaube nicht an Zeichen, aber damit ist klar: Das ist das Projekt.

Ich weiß auch noch, wie ich auf die Idee gekommen war. Um 2004 rum hatte ich eine Zeit lang alte Jugendbücher wiedergelesen, alles, was ich als Kind gemocht hatte, einerseits um zu schauen, wie sich das gehalten hatte, andererseits um herauszufinden, was für ein Mensch ich mit zwölf oder fünfzehn gewesen war. Bei manchen Sachen sehr bizarr (Kampf der Tertia von Wilhelm Speyer, ich wußte immerhin noch, was mich daran fasziniert hatte: Danielas nacktes Knie), die meisten aber erstaunlich gut, bessere Bücher vielleicht nie gelesen: Pik reist nach Amerika, Arthur Gordon Pym, Herr der Fliegen, Der Seeteufel (Luckner), Huckleberry Finn. Zu meiner Überraschung hatten alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten: Rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich überlegte, wie man diese drei Dinge heute in einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte; eine rein technische Frage, schreiben wollte ich das auf keinen Fall. Ich hatte genügend angefangene Projekte rumliegen.

Aber mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber in wenigen Minuten hatte ich den Plot in meinem Kopf zusammen, und allein, um nicht alles wieder zu vergessen, hackte ich in den folgenden zwei, drei Tagen 150 Seiten als Gedankenstütze runter.

Beim Blick in diese Dateien jetzt zum ersten Mal der Eindruck: Ich kann das, ich habe keine Mühe mehr, mich für einen Ton zu entscheiden, schlimmer als Thor Kunkel wird das auf keinen Fall, ich hau das in einem Monat zusammen, wenn’s sein muß.

Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen.

Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Das Hamsun-Foto, die Gaußsche Glockenkurve und dieses Gespräch. Ich erfahre: T. hat als einer der ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen.

Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, daß ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter.

Und wenn mein Entschluß, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur. Sonderbares Gefühl, mit einem gänzlich Fremden zu telefonieren und sich darüber zu unterhalten, wie man heimlich unter der Bettdecke weint. Rufen Sie mich nächstes Jahr wieder an. Ja, mach ich.