Sechs

29.6. 2010 20:00

Lars kommt den dritten Tag vorbei, um das neue macbook einzurichten, das mich in den Wahnsinn treibt. Ich fürchte, ich stelle mich sehr mädchenhaft an, aber nachdem ich stundenlang versucht habe, aus Scrivener schlau zu werden, wird mir langsam klar, daß ich keine Zeit habe, mich zwei Wochen auf eine neue Software einzustellen. Ich brauche genau die alten Benutzeroberflächen, und ich brauche sie sofort.

Abends Spaziergang mit C. Wir setzen uns an die Beachvolleyballfelder am Nordbahnhof und schauen dem warmen Sommerabend von einem Strandkorb aus zu. Ich fühle mich wie schon in den letzten Tagen oft, als hätte ich überhaupt nichts, so unbeschwert wie viele Sommer zuvor. Aber mit der Unruhe ist auch der Antrieb zum Arbeiten verschwunden.

Immerhin habe ich Korrekturen des Lektors jetzt im Haus. Die muß ich bis zum Wochenende durchgesehen haben. Marcus streicht einen korrekten Konjunktiv raus und ersetzt ihn durch den falschen: Daß ich das noch erleben darf. Hat auch sonst ein gutes Gehör für den Ton und ergänzt Sätze. Merkwürdig das gleiche Problem, das ich auch mit Passig immer habe, der Unterschied zwischen norddeutschem und süddeutschem Sprachklang: Füllwörter und Satzstellung.

Elinor hat das Manuskript gelesen und ist enttäuscht. Ihr gefällt die Handlung nicht, die unglaubwürdige Action, sie hätte lieber wieder den vor sich hin reflektierenden Erzähler der Plüschgewitter. Abends kommen mir so starke Zweifel an dem Buch, daß ich mich frage, ob das Geld von Rowohlt auf regulärem Wege zustande gekommen ist oder Helfer ihre Finger im Spiel gehabt haben. Ich frage mich das ernsthaft.

1.7. 2010 20:30

Treffen mit Per und Jochen, Marokko-Fotos anschauen. Jochen hat einen wunderschönen Ausblick über Berlin und jammert die ganze Zeit, wieviel schöner es in einer früheren Wohnung gewesen sei und wieviel schöner dort, bevor jemand renovierte usw. usf. Meine Schmerzgrenze für so was ist noch mal deutlich gesunken.

Per schickt mir auf Wunsch eine Mail, in der er seinerzeit meinen Wahnanfall beschrieb. Es deckt sich etwa mit meiner Erinnerung.

3.7. 2010 23:00

Meine vermutlich letzte Steuererklärung gemacht. Die Festplatte aus dem alten Computer ausgebaut und zerstört. Nachmittags das unfaßbare 4:0 gegen Argentinien in der Volksbar gesehen, danach in Lobos Wohnung gegangen, um an meinen Korrekturen zu arbeiten.

Überwältigender Sommerabend.

4.7. 2010 19:00

Morgens Fahrrad repariert, nachmittags ist es schon wieder platt. Ausgerechnet jetzt gibt auch noch das Handy seinen Geist auf. Schaffe es mit der U-Bahn gerade noch pünktlich zu Marcus. Wir gehen das Manuskript durch. Er ist unglaublich schnell und ich unglaublich begriffsstutzig.

5.7. 2010 2:38

Gewitter und Wolkenbruch. Alle Fenster auf. Könnte nicht bitte für den Rest meines Lebens Gewitter und Wolkenbruch sein?

Früher hatte ich mir immer vorgestellt, daß die Nächte das Schlimmste am Sterben sind. Die Nächte, das einsame Liegen im Bett und das Dunkel. Aber die Nächte sind schön und leicht zu ertragen. Jeder Morgen ist die Hölle.

10.7. 2010 1:55

Lukas hat mir ein Prassnik im Maßstab 1:87 gebaut. Jetzt steht es neben meinem Bett und leuchtet in der Nacht. Es ist ein wenig gespenstisch. Sechs Personen sitzen entspannt um den Tisch auf der Empore, keiner hat ein Bier.

11.7. 2010 23:00

WM-Finale Spanien-Holland bei Holm. Alle sind für Holland. Auf dem Balkon doziert der bizarre Joachim Bessing. Hinten in einem der Zimmer liegt allein irgendwo Julias Kind. So winzig, so unwissend, so hilflos, daß ich sofort raus muß vor die Tür, ich ertrage das nicht.

14.7. 2010 15:14

Hitzewelle, Schlaffheit. Manuskript ist abgegeben, Cover und Klappe fast fertig. Heute morgen bei amazon auf 35.000. Seit Tagen versuche ich, in den Krimi reinzukommen, gelingt nur teilweise. Ungleich schwerer als beim Jugendroman, wo ich den Erzähler einfach reden lassen konnte. Hier verliere ich immer wieder völlig den Überblick, starke Konzentrationsstörungen, ändere die Datei nach stundenlanger Arbeit zurück auf Anfang.

19.7. 2010 11:33

Miopental heißt das Medikament in meinem Traum. Eine große Spritze, gefüllt mit orangegelbem Brei. Jetzt, wo ich weiß, wie ich sterben werde, habe ich über viele Stunden und Tage an der neuen Vorstellung gearbeitet, um die alte Vorstellung mit der Waffe zu verdrängen. Ich habe mir nachts imaginäre Spritzen in den Arm gedrückt und imaginäre letzte Gespräche geführt mit zwiespältigem Erfolg: Heute und gestern morgen bin ich nicht in der Hölle aufgewacht, sondern in meinem Bett. Zum ersten Mal seit Februar. Ich bin aufgewacht, war müde, wußte, was Sache war, und wollte weiterschlafen. Und konnte es auch. Aber jetzt Antriebslosigkeit. Ich muß den Krimi nicht mehr schreiben. Ich muß gar nichts mehr schreiben. Alles sinnlos.

Die Fahnen sind im Haus. Lese sie maximal unbegeistert. Wobei das weder mit dem Roman noch mit meinem Zustand zu tun haben muß, das war beim Fahnenkorrigieren immer so.

Und auch das ist wie immer: Mitten in der Nacht springe ich aus dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer, Kracht, Knowles aus dem Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei mir?

Erinnere mich, wie ich im März in den ersten warmen Nächten am offenen Fenster saß und arbeitete und dachte, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Und das war es vielleicht auch. Aber es hat sich im Roman nicht abgebildet. Stilistisch fragwürdige Pennälerprosa mit Allerweltseinfällen, als Ganzes strukturlos. Auch die letzte Szene – wen interessiert’s?

Was mich dagegen sofort wieder reißt: Unterm Rad.

26.7. 2010 23:00

Zum ersten Mal wieder Sneak-Preview. Ohne das Biertrinken hinterher nicht so toll. Film auch Mist: Renn, wenn du kannst, nach dreißig Minuten rausgegangen.

Wenn ich ausgehe, fühlt sich das Leben an wie früher. Ich werde gedankenlos, ich verplempere Zeit.

27.7. 2010 20:38

Heute morgen mit Saemann letzte Korrekturen am Telefon. Zuvor schon bei der Presseabteilung Lesungen, Reisen, Interviews und Porträts abgelehnt. Vielleicht sollte ich das noch mal überdenken. Das Ding wird untergehen wie ein Stein, und dann bin ich auch unglücklich die nächsten Wochen. Andererseits habe ich beim Van-Allen-Gürtel die Pressesache komplett mitgemacht, und das Ergebnis waren keine zweitausend trotz guter Kritiken.

Fast den ganzen Tag nichts gemacht, ohne in Panik zu geraten. Im Nachmittagsschlaf verfolgt mich der Krimi. Immer an derselben Stelle will ich einen Satz einbauen. Ich wache auf, habe keine Kraft, aufzustehen und zum Rechner zu gehen, schlafe weiter und will im Traum wieder den Satz einbauen: No hay banda.

29.7. 2010 5:33

Herrliches Erwachen in C.s Wohnung, den ganzen Morgen kommt die Meise durchs offene Fenster herein, fliegt über mir rum und kreischt. Ich kann mir nicht erklären, was sie will, ihr Futternapf auf der Fensterbank ist voll.

Der Himmel blau, die Bäume grün, der Wind rauscht in den Blättern: ein bißchen wie damals das Erwachen in der Hütte in Burgthann. Ines wohnte mitten im Wald, unten am Garten vorbei floß ein Bächlein, das wir morgens im seichten, sandigen Flußbett kilometerweit stromauf wateten. Ines voran, mit dieser Naturkindhaftigkeit, kletterte barfuß genauso schnell über die Katarakte wie ich. Einmal schoß jemand mit dem Luftgewehr über unsere Köpfe hinweg.

Zum Einschlafen las sie mir Musils Fliegenpapier, Hellhörigkeit, die Hasenkatastrophe usw. vor. Wie Bruder und Schwester haben wir dagelegen, geschlafen haben wir nie miteinander. Sie hatte einen Freund und ich eine Freundin. Der Hauptfigur in den Plüschgewittern hat sie den Namen gegeben, im Jugendroman taucht sie als Isa auf. Eines Tages verschwand sie aus Nürnberg, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Es waren nur ein paar Tage, die ich sie kannte. Ich glaube, die glücklichsten in meinem Leben. In ihrer Hütte stand ein überdimensioniertes Funkgerät, seinerzeit Autotelefon genannt.

29.7. 2010 12:20

Halte vor einer Buchhandlung und überlege, mir ein neues Buch zu kaufen. Tue es dann doch nicht.

„Nur Gawrila Ardalionowitsch hat freien Zutritt.“ Mit siebzehn zuerst gelesen, läßt der Name die Physiognomie einer unbedeutenden Nebenfigur sofort wiederauferstehen. Ich meine, einen grauen Anzug zu sehen und ein Beamtengesicht. Rätselhaftes Gehirn. Heute vormittag stand ich an der Siegessäule und wußte, obgleich ich die Sonne im Süden sah, nicht, in welche Richtung ich nach Hause fahren mußte. Irgendwas haben sie mir rausoperiert. Aber Gawrila Ardalionowitsch ist immer noch da. War immer da. Hat sich ein Vierteljahrhundert irgendwo verborgen und taucht nun wieder auf mit seinem Beamtengesicht.

Im selben Kapitel auch Myschkins Gedanken zur Todesstrafe, die ich als Jugendlicher mit starker Bewegung las. Wieviel angenehmer es ist, ermordet zu werden als hingerichtet, wo es keine Hoffnung gibt. Und wie sehnsüchtig ich mir damals wünschte, mein Leben möge auch einmal aus den eingefahrenen, bürgerlichen Gleisen laufen.

30.7. 2010 23:11

Werde wieder etwas besser beim Fußball. Ich bin fitter, das Hirn baut Subroutinen um den Sichtfeldausfall rum. Leider haben die Leibchen genau die Farbe, die ich mit dem einen Auge nicht mehr sehen kann.

Die Bewegung tut dem Körper gut, trotzdem heute wieder den ganzen Tag in Gedanken. Dann ist es nur eine Armlänge bis zum Wahnsinn und noch zwei Fingerbreit zum Nichts. Ich muß nur die Hand ausstrecken. Es wundert mich, daß es den anderen nicht so geht.

31.7. 2010 23:44

Fahrradtour nach Rahnsdorf zu Lentz‘ Sommerfest, wie jedes Jahr. Zwischendurch Baden im Müggelsee. Das Wasser so schwarz und unheimlich, fast traue ich mich nicht hinein. Erst als mich davon überzeugt habe, daß es nur Wasser ist, nur ein See. Nach den glücklichen Tagen zuletzt ein ziemlicher Rückschlag.

Auf dem Fest der Herbert-Grönemeyer-Doppelgänger entpuppt sich als Herbert Grönemeyer. Herta Müller und Kehlmann sitzen an einem Tisch. Wenn es ein Gegenteil von Aura gibt, schwebt es strahlend um Kehlmann herum. Ich bleibe den ganzen Tag abseits, schaffe keinen Smalltalk mit niemandem. Erst als X. sich zu mir hockt, bei der sie jüngst Morbus Bechterew diagnostiziert haben, kommt eine Unterhaltung zustande.