Drei

19.3. 2010 14:30

Das PET-CT zeigt keinen zweiten Herd vorne rechts. Ich erzähle Dr. Zwei von den Einwänden Prof. Dreis. Sie nennt ihn einen charismatischen Mann, der nicht auf dem neuesten Stand der Forschung sei. Seine Zahlen seien falsch. Sie beruft sich auf die NOA.

19.3. 2010 18:00

Eine CD vergessen, erneut zum PET-CT. Die Praxis ist ganz in der Nähe von Marek, ich gehe zum Schachspielen vorbei. Spiele deutlich schneller, aber auch deutlich waghalsiger als sonst. In der Spielstärke am Ende kein Unterschied.

19.3. 2010 23:30

Prof. Drei und seine Medikamente, hauptsächlich Hypericin, bei gleichzeitiger Ablehnung der Bestrahlung, gegoogelt. „Für die Wirksamkeit von Hypericin gibt es keine Nachweise.“ Quelle: NOA. Die Suche nach neuesten Studien macht nicht glücklicher. Überhaupt: Ich finde fast keine „neuesten Studien“. Bei der Suche nach zuverlässigen Angaben lande ich immer wieder auf Wirtschaftsseiten. DCVax-Brain von Northwest Biotherapeutics, Impfung mit dendritischen Zellen, phantastische Studien aus dem Jahr 19** etc., wo bleibt die Folgestudie? Die Börse rät ab.

20.3. 2010 8:00

Traum: Ich gehe an einer Reihe von Rassehunden mit schönem Fell vorbei. Eine Stimme sagt mir, die Hunde hörten auf mein Kommando. Ich befehle einem zu verschwinden, er rührt sich nicht. Ich gehe einen Hügel hinauf und schaue mich nach den Tieren um, von denen ich weiß, daß sie gleich jemand auf mich hetzen wird. Ich verstecke mich in einem Kellereingang, und die Stimme sagt, daß dort der größte, schrecklichste Hund wohnt. Ich kehre zurück zu den Hunden, die in Reihe stehen.

Traum: Bei der Entlassung geben die Ärzte mir sieben Valium, die „sicher tödlich sind“. Ich schlucke zu Hause zwei oder drei, um mich zu beruhigen. Dann fürchte ich, sie könnten mich in dieser Dosierung bereits einschläfern, und pule den zerkauten Rest aus der Mundhöhle. Wieviel habe ich jetzt genommen? Ich frage die Ärzte, ab wieviel Tabletten genau es aus ist. Zwei, sagen sie. Ich trinke eine Schüssel Salzwasser und weiß: Ich brauche eine Waffe.

20.3. 2010 15:00

Vier Stunden warten auf Prof. Drei. Zwei Patienten waren gestern schon da, haben fünf Stunden gewartet und wurden dann nach Hause geschickt. Diesmal keine beeindruckenden Langzeitpatienten, dafür viele aus dem Ausland, ein Schwede oder Niederländer, ein Italiener, ein Russe, eine Vietnamesin.

Prof. Drei hat keine Einwände gegen meine Strahlentherapie am Montag. Spricht nur abermals von Wirkungslosigkeit, allerdings mit anderen Zahlen: Lebensverlängerung um 2 Monate. Stützt sich auf NOA 1,2 und 3, worauf auch Dr. Zwei sich stützt. Ihm geht es nach wie vor um Jahre. Will nach 6 Wochen ein MRT und mich dann wiedersehen. Empfiehlt die Kombination aus Hypericin, Thalidomid (Contergan-Wirkstoff, Angiogenesehemmer) und Resochin (Chloroquin) als Apoptoseauslöser.

Daß ich keine Studien zu Hypericin finden konnte, wundert ihn nicht: es gibt keine. Zu dem, was er macht, auch nicht. Googelt man die Medikamentenkombination, findet man nichts.

Ich frage, wo im Krankenhaus ich meine AOK-Karte vorzeigen soll, weil sie schon letztes Mal keiner sehen wollte. Er sagt: Ist alles umsonst. Klingt fantastisch und macht mich noch mißtrauischer. Wieder der Händedruck, der einen hinauszieht.

22.3. 2010 13:50

Beginn von Temozolomid und Bestrahlung im Clinac 3 der Charité. Schönes Gerät, könnte für meinen Geschmack noch futuristischer sein. Der Kopf wird in der vor zwei Wochen hergestellten Maske fixiert, die Kanone wandert um den Tumor herum und verschießt aus verschiedenen Winkeln hochenergetische Photonen mit 1,5 Gray. Zweimal täglich. Dann piepst es, dann werde ich gedreht, dann piepst es wieder, und wenn die Assistentin unter großem Applaus das schwarze Tuch von der Kiste zieht, ist der Krebs verschwunden.

Strahlender Sonnenschein, fast blauer Himmel. Clinac 3 liegt an der Spree, es sind nur ein paar Meter bis zum Hauptbahnhof, und da stehe ich jetzt in dem Panorama, das ich von der Neuropsychiatrie aus noch sehen konnte. Das Fenster, an dem ich stand, kann ich nicht mehr identifizieren.

Sitze am Wasser mit Salinger. Jogger im T-Shirt, eine Frau, die sich auf der Bank ausgestreckt sonnt, Skater mit Slalomhütchen und Zeitmeßanlage.

Jetzt zeig mal, was du kannst, Karnofsky. Los.

23.3. 2010 6:55

In der Bestrahlung vor mir ein etwa gleichalter Mann mit einer senkrechten Narbe auf der Stirn. Sieht deutlich attraktiver aus als bei mir, wo ich vorgestern beim Haareschneiden feststellen mußte, daß meine Seite wirkt wie ein von Andy Warhol gestaltetes, von behinderten Kindern abgezeichnetes Rolling-Stones-Cover.

23.3. 2010 17:10

Eine Stunde warten auf die zweite Bestrahlung. Zeichne einen Mitwartenden mit Kugelschreiber in mein Notizbuch. Erstes Porträt seit, ich glaube, Tiina, seit fünfzehn Jahren. Nicht gut, ich habe den abstrakten Zugang zu den Linien und Winkeln nicht mehr, aber daß ich überhaupt wieder Freude am Zeichnen habe: eine der vielen Merkwürdigkeiten der letzten Wochen.

24.3. 2010 16:39

Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, „ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden“ usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?

24.3. 2010 18:49

Noch mal Googeln: Eine Hypericin-Studie an Mäusen mit gutem Erfolg. Eine Chloroquin-Studie an Menschen vom National Institute of Neurology and Neurosurgery of Mexico, 2005: Die Chloroquin-Gruppe überlebt im Schnitt 24 Monate, die Placebos 11 Monate. Dreißig Teilnehmer, und etwas verwirrend: die randomisierte Chloroquin-Gruppe ist durchschnittlich fünf Jahre jünger, bei gleichem Karnofsky. Was mir nicht ganz unerheblich vorkommt. Folgestudien?

Ansonsten wenig zu Chloroquin, außer dem Treffer in der Blume von Tsingtao. Da wirft der Erzähler sich damit zu, nachdem er seinen Fieberanfall hatte und in einer Gedankenschleife aus der Welt zu verschwinden glaubte.

Apoptoseauslöser: Das Protein CD95 ist ein wichtiges Schaltmolekül, um den programmierten Zelltod auszulösen, wofür sich die Krebsforschung logischerweise interessiert. Schalter anschalten, und der Krebs macht sich selber weg. So die Idee. Martin-Villalba vom Deutschen Krebsforschungszentrum findet 2008 (?) heraus, daß die Aktivierung von CD95 beim ausgerechnet Glioblastom zu explosionsartigem Wachstum des Tumors führt.

Jetzt in Heidelberg in der Entwicklung: APG 101 von Apogenix, das den Apoptoseschalter CD95 über die Neutralisierung des Liganden CD95L auszuknipsen versucht. Verträglichkeit des Medikaments erwiesen, zur Zeit Phase-II-Studie an Rezidiven in Heidelberg.

„Ligand CD95L“, „Rezeptor mit pleiotroper Funktion“ – mittlerweile gehen mir die Worte so leicht über die Lippen wie „Schmetterlinge im Bauch“. Ich weiß sogar teilweise, was sie bedeuten.

Laut Apogenix-Website überleben weniger als 30% der Glioblastome das erste Jahr. Bisher waren es immer siebzig. Dreißig, siebzig, whatever: Old Karnofsky und ich fahren eh mit dem Taxi.

26.3. 2010 10:00

Nach einer Woche Chemo und Bestrahlung keine Nebenwirkungen, vielleicht ein leicht benommenes Schwindelgefühl.

28.3. 2010 21:44

Die letzten Tage den Jugendroman gesichtet und umgebaut, Übersicht erstellt, einzelne Kapitel überarbeitet, neue entworfen. Jetzt von Anfang an: jeden Tag mindestens ein Kapitel. In spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1.

28.3. 2010 22:30

Je länger man googelt, desto sicherer sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu überleben, unter 50 Prozent. Immer noch ohne Schlafmittel.

29.3. 2010 12:30

Termin bei Prof. Moskopp und ein Treffer im Gen-Lotto: Ich hab die Scheißmethylgruppe. Ich bin hypermethyliert. Der entscheidende Marker, ob der Körper auf Temodal wahrscheinlich überhaupt anspricht. Und jetzt fick dich in deinen kleinen, gottlosen, unhypermethylierten Arsch, du Dreck von einem Krebs. Die Wahrscheinlichkeit war 45%. Die Folge sind ein paar Wochen oder Monate. Statistisch. Statistisch ist es aber auch so: Nach zwei Jahren wird die Kurve flach.

The survival of patients treated with TMZ plus radiotherapy according to MGMT promoter status.

Auf dem Rückweg von Moskopp sehe ich aus der Straßenbahn Holms Büro am Alexanderplatz. Ich steige aus, um ihn zu besuchen, kann das Bürogebäude aber nicht mehr finden.

29.3. 2010 22:25

Der vielleicht senilste Sack der deutschen Literatur redet eine Stunde lang über sein bevorzugtes, seit dem Ende des Judenthemas einziges Thema: wie ungerecht er um 1924 herum einmal kritisiert worden ist von der Kritik für seinen Roman „Hans“ oder „Dörte“, während aufmerksame Geister doch schon auch damals und von den Übelmeinenden leider verdeckt und überschattet hinter ihm gestanden hatten wie selbstverständlich auch jederzeit sein Publikum, beispielsweise jener Studienrat aus München, von dem es folgende herzstärkende Anekdote zu erzählen gebe, wodurch in diesem ganzen Prozeß nicht zuletzt auch noch einmal der demokratische Gedanke selbst gegen die Verschwörung der Cliquen sich ausgedrückt und ihn seelisch aufgebaut und sein Tun abermals zurecht bestätigt habe usw.: Walser auf 3sat. Vielleicht sollte er zu dem Judenthema zurückkehren, das war irgendwie noch weniger anstrengend.

30.3. 2010 13:09

Sechs Kohlenstoff, sechs Wasserstoff, sechs Stickstoff, zwei Sauerstoff zu zwei Ringen gebogen: Temozolomid. Fünf Tabletten 1189,17 Euro. Danke, AOK. Im Ernst: Ich weiß nicht, wie das Gesundheitssystem ausgesehen hat, bevor alle anfingen, sich zu beschweren, wie sehr runtergerockt es nun sei, aber was dieses System schon in die Errettung und Erhaltung einer flackernden Kerze investiert hat, die sich um das Bruttosozialprodukt dieses Landes bisher auch noch nicht so verdient gemacht hatte: erstaunlich.

Danke Staat, danke Gesellschaft, danke AOK, danke, danke.

2.4. 2010 8:00

„Du wirst sterben.“
„Ja, aber noch nicht.“
„Ja, aber dann.“
„Interessiert mich nicht.“
„Aber, aber.“

Der Komödienstadel führt sein tägliches Stück zum Weckerklingeln auf, fünf Sekunden später beendet der Intendant die Vorstellung. Work!

2.4. 2010 12:37

Krebs und Reiki: Der tägliche Irrsinn der Mailingliste.

Ich kann nicht mehr googeln, es zieht mich runter. Organspendeausweis im Portemonnaie gefunden und weggeworfen. Der genetische Schrott, der meinen Geist beherbergt, ist jetzt wertlos.

4.4. 2010 20:00

Prassnik. Normalität. Gut.

5.4. 2010 17:30

Vor zwei, drei Wochen war ich wieder bei meinem Nachbarn unten, der mich seit Jahren mit Lärm foltert und den keine Botschaft erreicht, und habe ihm die Lage erklärt und warum ich jetzt keinen Lärm mehr brauche. Bat ihn am Ende, sich eine neue Wohnung zu suchen oder Kopfhörer zu kaufen. Ein paar Tage war Ruhe, jetzt ist es wieder wie immer. Ich meine, ich muß nicht unbedingt den Diktator einer Bananenrepublik nehmen. Ich kann die Welt auch ein kleines bißchen schöner machen, indem ich mit dem Tranchiermesser ein Stockwerk tiefer gehe.

6.4. 2010 19:02

Es gibt wenig, was unsichtbarer wäre als Denkmäler. Aber wenn man so durch die Straßen läuft wie ich zur Zeit, fallen sie einem doch auf. Imperatorenpose, weißer Marmor, Hannoversche Straße: „Dem siegreichen Führer im Kampfe gegen Seuche und Tod“ Robert Koch. Es rührt einen deutlich mehr, wenn man gerade unter einem der modernsten Linearbeschleuniger gelegen hat als wenn nicht.

7.4. 2010 7:20

Clinac 3 fährt nicht hoch, ein Techniker und ein Physiker sitzen ratlos vor der Maschine. Ich werde in den Keller geführt, warte vor dem Gammatron-Schaltraum und denke an den letzten Coen-Film. Wie hieß die Formelsammlung des Verrückten noch mal? Aber Clinac 2 will mich auch nicht, ich kann nach Hause gehen.

Zwei bis drei Termine am Tag und stundenlange Wartezeiten: So kann ich nicht arbeiten. Acht Kapitel in zwölf Tagen.

Im Projekt Regression noch mal Wackenroder gelesen: „Was soll ich aber von jenen sagen, die mir immer am verdrießlichsten gefallen sind und die meiste Langeweile erregt haben? – Die als Knaben mit unnützer Hitze und wilder Eitelkeit über Kunst und Wissen fielen und alles wie Blumen pflückten und rissen, um sich damit zu putzen; die als Jünglinge noch Knaben blieben, und sich bald mutlos dem Eigennutze, der Sorge für ihre dürftige Wohlfahrt überließen, die sie ihr Schicksal, ihr Verhängnis nannten? – Immer tiefer in das Leben hineingelebt, fällt es wie Mauern hinter jedem ihrer Schritte, den sie zurückgelegt haben; sie sehn auch nur vorwärts, ihrem Gewinne, ihren Titeln, ihrer Ehrerbietung entgegen, die ihnen andre bezeigen, immer enger wird ihr Weg zu beiden Seiten, immer mehr schrumpft ihr Herz zusammen, und das, woran sie leiden, ist ihr Stolz, ihre Krankheit ist ihr Glück, die sie Erfahrung und Weisheit nennen. Sie billigen mit einschränkendem Bedauern die Begeisterung, weil sie sie für das Jünglingsfeuer halten, an dem sie sich als Kinder auch verbrannten, um sich nachher desto mehr davor zu hüten: sie behandeln den Enthusiasten gern wie einen jüngern unmündigen Bruder, und sagen ihm, wie mit den Jahren alles, alles schwindet, und wie er dann das eigentliche Leben, die eigentliche Wahrheit kennenlernt. So unterweist der Schmetterling den Adler, und will, daß er sich doch auch einmal, wie er getan, einspinnen soll, und dem Fluge und der tändelnden Jugend ein Ende machen. So wahr ist es, daß viele in der Unerfahrenheit der Jugend noch am besten sind, daß die Klugheit der Jahre sie erst mit dem dichtesten Nebel überhängt, und daß sie dann den Glanz der Sonne leugnen.“

9.4. 2010 8:10

Auf Wiedersehen, Haare.