Achtunddreißig

21.3. 2013 12:57

Ich bin nicht auf Facebook, ich war nie auf Facebook, ich werde nie auf Facebook sein. Unbelehrbarer Betreiber der in diesem verrotteten Drecksladen unter meinem Namen erstellten Seite ist der Hamburger Internetirre Gerhard Bangen. Nur so zur Information.

25.3. 2013 13:50

Auf dem vereisten Kanalufer nach Mitte zum MRT. Hinterm Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zwischen Invalidenfriedhof und Naturkundemuseum:

GESUCHT!!!

Am 09.03. 2013 ist unsere Hündin in Berlin-Mitte entlaufen. Sie hört auf den Namen Pupsi und hat eine Schulterhöhe von ungefähr 42 cm und ist 6 Jahre alt. Unsere Pupsi ist krank und braucht dringend ihre Medikamente. Die kleine Maus hat am rechten Oberschenkel eine lange Narbe. Sie könnte auch noch ihr Halsband und Leine haben. Pupsi ist eine ganz liebe, aber ängstliche Hündin.

Essen beim Thai, Apotheke, Arbeit, Warten. Ein oder zwei Tage schreibt der Radiologe an dem Befund, das Ergebnis erfahre ich Donnerstag von Dr. Vier. Das ist Standard. Nur wenn es einen auf den Bildern auf Anhieb erkennbaren und sofortiges Eingreifen erfordenden Notfall gibt, kriege ich einen Anruf. Ich arbeite.

25.3. 2013 15:50

Telefonat mit C., der ich nichts gesagt hatte und der ich auf die Frage, was ich den ganzen Tag gemacht hätte, nun das MRT gestehen muß. Aber kein Problem, sage ich. Wenn was wäre, hätte ich doch Bescheid, Praxisschluß war ja schon, behaupte ich.

Erst spät sehe ich das rote Blinklicht auf dem Telefon, fünf Anrufe während meiner Abwesenheit: Mutter, C., eine Münchner Vorwahl, Berlin und noch was Unbekanntes. Ich vergleiche die Nummern im Display mit der Nummer der radiologischen Praxis: Nein, der Radiologe hat nicht angerufen. Ich kontrolliere die Nummern noch einmal und der Akalkulie halber noch einmal. Ein Rest Unsicherheit bleibt.

Nach einer nicht ganz kleinen Weile komme ich auf die Idee, die Nummern zurückzurufen. München behauptet, nicht angerufen zu haben und kennt mich nicht. Der Unbekannte nimmt nicht ab, und unter Berlin meldet sich der Anrufbeantworter der onkologischen Praxis. Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an.

Ich könnte jetzt natürlich die Notfallrufnummer der Gemeinschaftspraxis meiner drei Onkologen anrufen und alle verrückt machen, am meisten mich. Wenn was passiert wäre, hätte man mich doch sicher ein zweites Mal angerufen. In der Nacht schlafe ich wie immer. Erst am Morgen wird mir mulmig, die Praxis öffnet um halb neun. Um 8:31 geht jemand ans Telefon: Nein, wir haben Sie nicht angerufen, nein, eine Nachricht haben wir nicht für Sie, Dr. Vier kommt um zwölf. Noch fast drei Stunden. Ich versuche es weiter mit Arbeit. Eine Stunde geht es noch. Dann nicht mehr.

Kurz nach zwölf ruft Dr. Vier an. Nein, er war das nicht mit dem Anruf, Befund liegt auch nicht vor. Sollte der schon vorliegen? War das MRT nicht erst Montag? Dann bis Donnerstag.

Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.

28.3. 2013 4:31

Noch früher aufgestanden als sonst, um das Morgenrot zu sehen, wenn es eines gibt, aber es gibt keins. Wolkendecke, dünner Schneefall. Schwarzer Tee und Lektüre: Last Day of the Last Furlough. Wie er auf dem Boden sitzt zwischen seinen Büchern: Sir, I’ve brought my books. I won’t shoot anybody just yet. You fellas go ahead. I’ll wait here with the books.

28.3. 2013 9:10

Im Infusionszimmer protokolliere ich die Minuten, sinngemäß den Vorgang des Protokollierens selbst. Blutdruck, Nadel, Blutbild, welcher Arm, 130 zu 105, und wie fühlen Sie sich? Ausgezeichnet, und Sie? Das genau vorgeschriebene rituelle Gespräch vor jeder Infusion.

Wobei der wichtigste Wert noch fehlt: Wenn das Avastin keine oder nur minimale Wirkung gezeigt hat, und auch wenn der Angiogenesehemmer das Gliobastom quer durchs Hirn gestreut hat oder anderswo eine Rakete gestartet ist, kann man sich die Infusion auch sparen und die 7000 Euro gleich dem Kinderhilfswerk spenden.

28.3. 2013 9:40

Das Fax liegt vor Dr. Vier auf dem Tisch. Der Gesichtsausdruck meldet sofort: keine Katastrophe. Das Avastin wirkt. In diesem Teil mehr, dort weniger. Um die Resektionshöhle, wo die Schrankenstörung von MRT zu MRT größer geworden war – von zuletzt fünf bis über sechs Zentimeter – ist ein Rückgang im Bereich Dreikommairgendwas bemerkbar, Ventrikel weitgehend unverändert usw.

Der spiegelbildlich zum Glioblastom gelegene Tumor links parietal hingegen – wir nennen ihn jetzt zum ersten Mal Tumor – ist langsam weiter gewachsen und hat nun eine Ausdehnung von sechs mal drei bis vier Zentimeter erreicht, der Wachstumsgeschwindigkeit nach zu urteilen ein Astrozytom Grad II oder III. Ja, vielleicht operabel, sagt Dr. Vier, aber wozu, macht doch keine Probleme, oder? Von der Lage her müßte das in die Motorik rechts eingreifen, tut es aber nicht. Und solange es das nicht tut, kann es uns – Ihnen – egal sein.

Eine Prognose gibt es nicht, eine allgemeine Statistik auch nicht mehr. Nach drei OPs, zwei Bestrahlungen, drei verschiedenen Chemos ist man seine eigene Statistik.

Vor drei Jahren noch war ich ein winziger Punkt in einer Punktwolke, reine Mathematik, kein Individuum, das hatte mir gefallen. Jetzt weiß ich nicht mehr. Keiner weiß.

Avastin hilft manchmal ein paar Wochen, manche hält es Monate stabil. Im Virchow gibt es eine Frau, die Avastin seit vier Jahren bekommt. Das ist möglich. Und morgen mit Kopfschmerzen aufwachen und übermorgen tot sein, auch.

28.3. 2013 15:56

Ich arbeite, ich schreibe. Dann rufe ich C. an, weil mir bewußt geworden ist, was der Befund bedeutet. Ich habe Käsekuchen für uns gekauft, sage ich heulend. Sie mag leider keinen Käsekuchen. Auch Mohnkuchen mag sie nicht. Wußte ich nicht, ich war nie gut in sowas.
Ich kann dir ein Stück Nußkuchen auftauen, sage ich, ja, Nußkuchen mag sie.

29.3. 2013

Schneegestöber seit dem ersten Lichtstrahl und schon zuvor.

15.4. 2013 19:45

Es ist Sommer geworden gegen meinen Willen. Meine erste Radtour, überall Gerüche, Blaustern am Plötzensee, Abendrot in den Zweigen. Kanal, Kanal, Kanal, über die Mäckeritzbrücke in den Jungfernheideweg, Siemensdamm, Orientierungsverlust, wie erwartet. Einstündiges Herumgegurke zwischen Häusern, sommerlich aufgeheizten Fassaden, Dönerbuden, U-Bahnstationen, Leuchtreklame vor dunklem Himmel, eine Welt wie früher, wie im richtigen Leben, immer neue Gerüche, von C. telefonisch begleitet: Du fährst schon wieder in die falsche Richtung, steig ab, Mann, ja sicher, dreh das Rad um 180 Grad, zurück zum Siemensdamm, so ein schöner Sommer, so eine schöne Brücke, was für eine schöne Fahrt in einer solchen Nacht, in einer solchen Wärme, ich wußte, daß ich im Sommer nicht sterben wollte. Geht’s dir gut? Ja, dir auch?

17.4. 2013 13:30

Blauer Himmel. Ich stehe seit Tagen in meiner von der Sonne aufgeheizten Wohnung, tue nichts und warte auf den Tod.