Dreiunddreißig

22.10. 2012 8:31

Mädchenschönschrift, liniertes Papier, Realschule, Baden-Württemberg: „Eigentlich hasse ich es Bücher zu lesen, aber das hier hat mir Spaß gemacht. Das ist auch das Beste was ich gelesen habe, aber ich habe eh nur 2 gelesen. Das andere war aber scheiße.“

Die Lieblingsstellen der Vierzehnjährigen sind die Schimpfwortorgie von Tschick und Isa auf der Müllkippe (von Gymnasiasten immer wieder kritisiert, „weil wir dann dieselben Worte benutzen“) und die Szene, wo der Mann sich einen runterholt, während Isa die Haare geschnitten bekommt.

Ihre Klassenkameradin A. schreibt: „Ich konnte mich sehr gut in Maik hinein versetzen, da er im gleichen Alter wie ich ist und ich so ähnliche Sachen machen würde.“

Im nachhinein bedauere ich, die Autoknack- und Fahranleitung nicht so ausführlich behandelt zu haben wie ursprünglich geplant.

22.10. 2012 15:57

Hier bittet gleich der nächste um Entzug der Approbation:

Sehr geehrter Herr Herrndorf, es gibt außerhalb der klassischen Medizin einen Ansatz zur Heilung von Glioblastomen: Erzeugung einer Ketose durch eine spezielle Diät, kombiniert mit Omega-3-Fettsäuren und schwefelhaltigen Aminosäuren. Dazu liegen Berichte vor.

Mit freundlichem Gruß, Dr. Siegfried Jedamzik, Facharzt für Allgemeinmedizin, Ingolstadt.

Und damit endet die kleine Dokumentation auch schon wieder. Diese Irren sind eh nicht aufklärbar, ich bin schon froh, meinen Briefkasten nicht mehr von Anhängern Ryke Geerd Hamers verstopft zu finden.

24.10. 2012 10:15

Nach der Gabe von CCNU und Vincristin hat man noch zwei, drei Stunden, den Kalorienbedarf zu decken, bevor man in die Horizontale sackt. Wie immer laufe ich vom Onkologen direkt zum Burger King. Der Hamburger schmeckt noch, der Junior Whopper bereits wie Pappe. Und das liegt nicht am Burger King. Großer Panoramablick über die riesige Straßenkreuzung, Landsberger, Tram, Großstadt. Die Bedienungen sind freundlich, sehen alle aus, als sparten sie auf ein Tattoo, und werden ihre Welt nie verlassen.

Zum ersten Mal war ich hier vor genau zweieinhalb Jahren, als ich mit dem Fahrrad zum Kienberg fuhr, um die Straßen in der Umgebung des Hauses von Maik Klingenberg abzufahren. Ich erinnere mich an den herrlichen Tag, den Sonnenschein und an das Mädchen, das in der gegenüberliegenden Ecke über ihrem Tablett saß. Unglaublich, wie ich seitdem abgebaut habe, körperlich und geistig.

29.10. 2012 15:35

Meine Gedanken werden zunehmend laut in mir, in allen Geräuschen schwimmen Silben und Sätze. Der gleichmäßige Atem C.s schwillt an wie Meeresbrandung und treibt mich auf, zwischen sich selbst sagenden Sätzen und Sprachverlust, zwischen innerer Stimme und Epilepsie ist kaum noch ein Unterschied.

4.11. 2012 5:50

Liegestütze unter dem Dreiviertelmond, Orion und Jupiter, Osten hinter schweren Wolken.

4.11. 2012 8:16

Zwei langgezogene Vogeldreiecke und -schnüre auf dem Weg nach Süden.

4.11. 2012 8:25

Die erste Blaumeise.

8.11. 2012 15:30

Wenn C. mich besucht, fragt sie immer, ob ich was brauche. Heute brauchte ich Klopapier und bekam die ZEIT.

8.11. 2012 16:04

Meine alte Kunstprofessorin, die schlimmste, menschlich unangenehmste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist, hat nun auch ihren von kleinen Navigationssackgassen begleiteten, gut gelungenen Internetauftritt. Erst freue ich mich am großzügig über die Seite verteilten künstlertypischen Nonsens – „Geht es darum, ein Material (Farbe) zu nobilitieren oder es als das zur Geltung zu bringen, was es eigentlich ist?“ – dann überfällt Traurigkeit mich. Zwanzig Jahre sind vergangen seit unserer letzten Begegnung, und sie hat ihre Zeit mit komplett sinnlosem Quatsch vertan, genau wie ich.

Einer ihrer letzten Sätze, an den ich mich erinnere, geäußert auf einer der letzten Klassenbesprechungen: „Jesus hat die Welt erlöst, das ist bewiesen.“ Auf meine Frage „Wie?“ erhielt ich nie eine Antwort.

9.11. 2012 21:51

Ein Schatten huscht über die Terrasse im fünften Stock. Als ich das Licht lösche, um besser sehen zu können, verschwindet die Maus in der Öffnung für das Regenwasser.

12.11. 2012 21:45

Aufstehen, schlafen, Gymnastik, kalt duschen, frühstücken, lesen, schlafen. Vögel füttern, Versuch, nicht zu schlafen, schlafen, C. anrufen. Gespräch über den Tod, über das Weinen, über das Sterben im Alter, wenn man der Letzte ist und keiner mehr da, der eine Erinnerung hat an den Jungen, derfünfzehn Meter über dem Erdboden einhändig im Baum hängt, an das Mädchen, das seinen Schulranzen auf einen fahrenden Laster wirft, das Kind unterm Sofa, das, während unbekannte Stiefel durch die Wohnung poltern, mit der flachen Hand zentimeterdicken Staub zusammenschiebt, zitternd.

14.11. 2012 12:30

Die Asche kriegen Sie unter Umständen ausgehändigt, sagt Dr. Vier, aber Sie müssen einen Bestattungsnachweis erbringen, so wie in The Big Lebowski geht es nicht.