Einundvierzig

20.6. 2013 21:45

Tagelang Hitzewelle. Nach der Infusion am Mittag nur geschlafen, bis Sturm mich weckt, Gewitter. Mit Pfefferminz aus eigenem Anbau lange nackt im kalten Regen auf der Terrase, die Blitze aus der Richtung Plötzensee.

Erinnerung an meinen Urgroßvater, von dem ich nichts mehr weiß , bis auf das, was man mir erzählte. Daß er mir angeblich ähnlich war und auch bei Gewitter aus dem Fenster starrte und den eigenen Pfefferminz trank.

Das Pfefferminzgebüsch in seinem Garten habe ich als Kind noch gesehen. Ich war sechs. Eine Familie aus Preetzer Bauern und Messerschleifern.

24.6. 2013 20:40

Ich habe eine woher auch immer recht genaue Vorstellung von meiner verbleibenden Zeit, die sich von Zeit zu Zeit ändert.
Gerade ist es dieses Jahr. Es kann aber auch zwei, drei oder fünf Jahren sein, das ist möglich, sage ich zu C., um sie zu belügen, als hätte ich noch Hoffnung. Zum ersten Mal gemerkt, daß auch C. sich eine Vorstellung macht.
Ich denke, zwei Jahre, sagt sie, hoffe ich. Zwei Jahre, das wäre schön.

27.6. 2013 17:02

Seit Tagen extreme Sprachstörungen. Vielleicht noch Folge des Avastins, möglicherweise auch Panikstörung (Vermutung des Neurologen schon seit Monaten).

Nun Selbstversuch mit Tavor, um die Panikhypothese zu verifizieren. Wirkung: null. Auch keine andere Wirkung. (Fürs Protokoll: Drittes Tavor seit der Klapse vor drei Jahren).

Forum zerschossen, keinen Supermarkt gefunden, Spaziergang ohne Plan, rede mit mir allein ohne Worte. Vielleicht, daß ich ein Gegenüber bräuchte. Nummer von Friederike und Rudi gefunden. Ewig lange nicht gesehen. Ich überlege, mich für mein voraussichtliches komplettes Sprachversagen vorab zu entschuldigen. Sie merken es erst kaum.
Meine Sprache besser als die letzten Tage. Im Deichgraf sprechen wir von früher, ich erzähle von Daniel L. Everett und den Piraha.

Rudi und Fredericke bringen mich nach Hause.

Don’t Sleep, There Are Snakes.

30.6. 2013 02:17

Kann mich mit C. kaum sinnvoll unterhalten. Sie versucht meine Sätze zu erraten und zu ergänzen. Ich bin traurig.

1.7. 2013 15:21

Beim Schreiben fehlen mir die passenden Verben. Und wenn ich sie habe, fehlt mir Konjugation. Das kann ich nicht für das Lektorat aufsparen, weil ich gar nicht weiß, was ich eigentlich sagen will.

Das kann ich nicht noch mal lernen, ich hab nicht noch mal sechs Jahre.

3.7. 2013 09:38

Mit Caroline, Susann und 13 oder 14 anderen im Deichgraf. Ich sitze allein an einem Tisch. Die Sprache seit Tagen kaputt. Ab und zu kommen einzelne und sprechen mit dem Stammelnden. Für sie ist es kein Abschied. Es ist ein schönes Gespräch, sagen alle, man merkt überhaupt nichts, ich rede wie gewohnt, so schön, mich zu sehen, und ich will das nicht hören, ich kann nicht mal das Wort finden, das meinen Zustand beschreibt.

Ich bin nicht der Mann, der ich einmal war. Meine Freunde reden mit einem Zombie, es kränkt mich, ich bin traurig, ich will weg. Ich will niemanden mehr sehen.

6.7. 2013 18:45

In einem riesigen, unbekannten Supermarkt am Ende der Putlitzbrücke. Während C. zurück muß, um die Johannnisbeeren zu wiegen, versuche ich im Gesprüch mit der Kassierin die Einkäufe als meine zu identifizieren und in meiner Tüte zu verstauen. Das gelingt nicht auf Anhieb, ich fürchte, den Ablauf zu stören.

Ich kann mich der Kassierin nicht verständlich machen, der Streß läßt kein ein einzelnes Wort übrig, ich weine. Ich will nicht weinen, es purzeln immer mehr Einkäufe auf mich zu. Ich fühle mich weniger wie ein verwirrter Greis an der Kasse als wie ein Vierjähriger, der zum ersten Mal allein einkauft.

Ich schlinge die Arme um meinen Kopf, ich berge den Körper, sinke so tief wie möglich mit Kopf und Oberkörper auf den Auffangtisch hinter dem Laufband in der Hoffnung, daß niemand mich anspricht.

Diese Position verspricht mir Sicherheit, der Körper erinnert sich klar an das Verhalten des Vierjährigen.

Ich übertreibe mein Drama weiter, das ist ein gutes Gefühl, und alle Dämme brechen.

Als C. zurückkommt, liege ich laut schluchzend tief verborgen hinter der Kasse auf dem Boden.

11.7. 2013 18:53

MRT. Seit Tagen kann ich nichts lesen, schon lange nichts, Bücher nicht, Mails mit Mühe, längere Sätze eine Qual, Hypotaxen meiner eigenen Bücher und Blogsätze nur, wenn ich sie laut lese. Allein kann ich nicht oft laut lesen. Manchmal bei Tagesform.

13.7. 2013 21:30

Mit C. die Dokumention über die Selbstmörder auf der Golden Gate
Bridge geguckt. Wie unterschiedlich sie über das Geländer springen.

Interview mit Kevin Hines, einer der wenigen von Zweihundert, die sprangen und überlebten. Vier Sekunden bis zum Einschlag und eine Ewigkeit mit dem Gedanken, einen Fehler gemacht zu haben, wahnsinniger Schmerz, diverse gebrochene Halswirbel, eintauchen und sinken ins Schwarze, dann Licht, ein Seelöwe, der Hines über die Wasserfläche stupste, bis die Küstenwache kam.

15.7. 2013 14:26

Beim Aufstehen am Morgen drei oder vier Meter rückwärts durchs Zimmer getaumelt und mit Kopf und Nacken gegen die Tischkante geknallt. Mit Rückenschmerzen zum Westhafen, S-Bahn zu Dr. Vier. Befund schlecht wie erwartet. Avastin ohne Wirkung, Glioblastom beiderseits progressiv. Ende der Chemo. OP sinnlos.

Ich weiß, was das bedeutet. Wie lange habe ich noch, zwei oder drei Wochen? Noch weniger, ein paar Tage?

Nein. So wenig erwarte ich nicht, sagt Dr. Vier, eher mehr. Mehr. Zwei, drei Monate. Kann auch sein, vier. Kann sein, fünf. Mit Glück auch sechs.

Viele Taschentücher habe ich in dieser Praxis nicht gebraucht. Heute brauche ich eins.

15.7. 2013 23:12

Niemand kommt an mich heran
bis an die Stunde meines Todes.
Und auch dann wird niemand kommen.
Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.

16.7. 2013 4:52

Gut geschlafen. Oranges Morgenlicht.

16.7. 2013 5:11

Gehe zum See baden.

Nachdem ich ein Posting im Forum abgesetzt habe, ob einer wach ist und mit will. Klar niemand wach. Wobei, ich gehe auch lieber ohne Begleitung, der Morgen gehört mir allein. Von der Steinstufe in den See, quer durchs Wasser, scheiß auf Epilepsie. Zurück, mühsam die Steinstufe hoch. Unfreiwillig rücklings wieder reingefallen. Nochmal und nochmal. Mußte mir niemand helfen. War auch keiner da. Körperlich gleich besser ohne Chemo.

Durch den Waldweg aus Holz und Harz: Ein langvergessener Geruch. Das sind die seit 40 Jahren abgehackten Lärchen im Garten meiner Großmutter.

Ampel Seestraße. Zwei Läufer strahle ich breit an, kurz davor, ihnen mitzuteilen, wie groß mein Glück heute ist.

16.7. 2013 20:15

Mit C. im Deichgraf.

Nächster Versuch, meinen Nihilismus in der Öffentlichkeit zu beweisen und festzumachen.

Es gibt uns nicht. Wir sind schon vergangen.

17.7. 2013 18:11

Ulrike, die ich eine Ewigkeit nicht sah, entdeckt in meinem Regal die taiwanische Ausgabe von Tschick und liest mir den ersten Satz vor.

Als erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.

19.7. 2013 8:12

Am liebsten das Grab in dem kleinen Friedhof im Grunewald, wo auch Nico liegt. Und, wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.