Neununddreißig

19.4. 2013 17:26

Den ganzen Tag lang über nichts anderes als darüber nachgedacht, das Blog einzustellen, nicht zum ersten Mal, die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz.

Wenn ich noch eine Chance sähe, Isa fertigzustellen, wäre hier Schluß, Beschränkung auf das Notwendigste, Rückkehr zur ursprünglichen Mitteilungsveranstaltung für Freunde und Bekannte in Echtzeit. Dafür war das gedacht. Aber funktioniert hat es nie. Statt alle Fragen zu beantworten und Zeit zu sparen, kostet es mir welche.

19.4. 2013 17:30

Ein Brief von meiner von mir als Erstklässler so sehr geliebten Lehrerin. Früher schon lange immer vergeblich versucht, sie zu finden, nach der Ehe mit Sergeant Waurich Mädchenname wieder angenommen, traurig, dreißig Jahre unauffindbar. Silberne Schrift auf blauem Briefpapier: Ich glaube, einige Großbuchstaben sofort wiedererkennen zu können, wahrscheinlich ein Irrtum, nach dreisekündigem Draufstarren, nach vierzig Jahren in einem dunklen Klassenraum für immer verschwunden.

Peter ruft Flocki.

Flocki kommt nicht.

20.4. 2013 13:21

C.s Vater hat endlich aufgehört zu atmen.

Vor über einem Jahr ins Koma gefallen, rasch keine Hoffnung mehr, gegen den Wunsch der Angehörigen künstlich immer weiter am Leben erhalten, zahlreiche Versuche, ihn sterben zu lassen gescheitert und von der Heimleitung sabotiert, bis endlich ein Arzt die Maschine abstellt. Über Wochen immer wieder haben C. und ihre Geschwister im Schichtdienst neben dem Bett auf dem Boden campiert.

21.4. 2013 13:15

Von einer Freundin gehört, daß ihr in der Ausbildung im Hospiz beigebracht wurde, das Fenster im Zimmer der Gestorbenen zu öffnen, damit die Seele raus kann.

Das hat mir gerade noch gefehlt, zu verrecken in einem Haus, das von offensichtlich Irren geleitet wird.

„Auch bleib der Priester meinem Grabe fern; zwar sind es Worte, die der Wind verweht, doch will es sich nicht schicken, daß Protest gepredigt werde dem, was ich gewesen, indes ich ruh im Bann des ewgen Schweigens.“ (Storm)

23.4. 2013 12:15

Von einem rückwärts einparken wollenden Auto am Robert-Koch-Platz vom Fahrrad gestoßen worden. Rad, Computertasche und ich liegen auf der Straße, jemand schreit. Ich. Vorgerannt, Fahrer Arschloch genannt, der Fahrer schreit, ich schreie, Beifahrerin steigt aus und brüllt, ich soll endlich mit Schreien aufhören und stattdessen das Fahrrad aufheben, man will in die Parklücke.

Als ich sage, wir können auch die Polizei rufen, wird es ruhiger.

Schiebe das Rad zurück, zuviel Angst vor Straßen. Erst zu Hause drauf gekommen, daß die Idioten mein Rad ja auch selbst hätten aufheben können, ich hatte es ja nicht freiwillig dahingeworfen.

Ohne Waffe ist man kein ernstzunehmender Verkehrsteilnehmer. Ich will ein Springmesser. Wie ich es als Zwölfjähriger hatte. C. zeigt mir den Vogel.

23.4. 2013 16:09

Immer mühsamer das Sprechen. Satzteile finden nicht von selbst zueinander, ich benutze falsche Worte, ich umschreibe, was ich sagen will, Beim Schreiben hilft Google. Komplizierte Strukturen vermeide ich, vor Freunden schäme ich mich.

24.4. 2013 17:30

Kein Mensch am See, nur Ines in ihrem hellblauen Pullover vor schattigen Sträuchern, durch die Baumkronen schießen Sonnenpfeile.

Ebenso unbekümmert wie zwanzig Jahre zuvor sitzt sie im Schlamm des Ufers, die nackten Füße ins Wasser gehängt. Auf einem trockenen Baumstumpf ich, zehn und fünfzehn Meter weiter, als wäre ich ein Maler, der ich damals tatsächlich auch noch war, und ich weiß, wie schön das war, wieviel Zeit verging, und wie jung wir einmal waren.

Mein Gedächtnis stellt die Konkordanz vergleichbarer Szenen aus der Kunstgeschichte zusammen, lauter tote Objekte, lauter tote Maler. Ob ein Baum, den Corot malte, heute noch steht?

Mit Ines am Kanal weiter durch Natur, Mond im Osten, Sonne im Westen, Brombeeren, wilde Johannisbeeren, Himbeere. Bei der Himbeere sind wir nicht sicher, müßte man später noch einmal nachgucken. Ja, sagt Ines.

30.4. 2013 20:45

Was mit mir los ist, weiß ich nicht. Depression ist es nicht. Wobei ich auch nicht weiß, wie Depression sich anfühlt. Ich habe in meinem Leben noch nie eine gehabt. Der ganz große Spezialist bin ich also nicht. Aber die anderen, die ich kannte, sahen anders aus. Dafür geht es mir meiner Vorstellung nach noch zu gut. Aber wenn es keine Depression ist – was ist es dann?

30.4. 2013 21:18

Die Krebskur nach Rudolf Breuss richtig gemacht!
Wenn das Lächeln meine Seele streichelt
Was ich mir wünsche ist ein Clown
Ich mal mir ein Tor zum Himmel
Fliege nicht eher als bis dir Federn gewachsen sind
Wie ein Schiff im Sturm
Morgen bin ich wieder da
Und trotzdem mal ich mir ein Lächeln ins Gesicht
Arbeit und Struktur

7.5. 3013 18:30

Seit einer Ewigkeit wieder einmal ein Versuch, zwei Personen zugleich zu treffen, Per und Cornelius, geht doch.

Wenn ich mich auch ins Gespräch einschalten will, muß ich kurz die Hand heben, um für mich um Ruhe zu bitten

Einmal muß ich einen kurzen Spaziergang machen, weil die Stimmen überhandnehmen. Gegenüber das Friedrich-Krause-Ufer ist hunderte Meter fliederbewachsen.

Zurück im Deichgraf weiter über den Alexanderroman, über Bessing, Pers Tochter, Flieder und Gespenster.

Über den Alexanderroman, von dem ich noch nie gehört hatte, das neben der Bibel im Mittelalter am weitesten verbreitete Buch in Europa.

Über Pers Tochter, die Schwimmen lernen muß, was alle anderen im Kindergarten schon können, und wie sie weinend aus dem Wasser steigt, nicht weil die anderen über sie lachen, im Gegenteil sie sie anfeuern, was sie dem Vater gegenüber gleich als das eigentliche Gefühl der Demütungssituation verbalisieren konnte: nicht nicht schwimmen zu können, sondern die Scham, von allen angefeuert zu werden, die Scham, in den Augen der anderen bedürftig zu sein.

Alexa, Bessings Buch, über Tristesse Royale nochmal und wie Bessing in einer Unterhaltung mit Cornelius immer seinen Bauch streichelt, seinen, wie Cornelius zugibt, schön flachen Bauch, den unablässig zu streicheln, wie Bessing erklärt, so schön sei, während ja im Gegensatz dazu Cornelius‘ Bauch nicht so schön sei, wie Bessing, Cornelius‘ T-Shirt aufhebend, feststellt, dies sei ja nicht so schön, eine weiße Schweineplautze.

Ein schöner Tag an einem schönen Tag.

8.5. 2013 10:36

Der zehnte Zyklus Bevacizumab wird in der Natur ambulant in rasender Fahrt gegeben.

9.5. 2013

Mit einer jungen Frau gehe ich hinter den Fabriken auf dem Trampelpfad am Kanal spazieren, wo man immer in Gefahr ist, ins Wasser zu fallen. Wir gehen lange, dann haben wir Hunger und suchen einen Burger King. Ich warte vor der Tür und sage, sie solle schon mal Pommes mit Ketchup für mich bestellen. An der Blicken der anderen Gäste erkenne ich, wie schön sie ist. Es ist Edie Sedgwick. Mein schlechtes Englisch läßt das Gespräch stocken, doch nach nur zwei oder drei Stunden hat sie Deutsch gelernt. Beim Essen streichelt sie meinen Arm, beim Erwachen fällt mir ein, daß sie tot ist seit 1971.

21.5. 2013

Dramatischer Sprachverfall. Unklar, ob die Worte schon schwinden, oder ob nur Streß. Denn immer wieder gelingen fast fehlerfreie Sätze. Hauptsächlicher Bestandteil, wenn ich das richtig sehe: der Gedanke, Isa nicht fertigstellen zu können. Spätestens letzten Sommer wäre es da gewesen. Zuletzt immer noch manchmal zunehmend schlapp Tage gearbeitet, Material längst genug, kann ich nicht mehr, wird nichts.

Jeder Satz im Blog mit größter Mühe zusammengeschraubt. Freunde korrigieren. Mein häufigster Satz in Unterhaltungen: Was ist, was ich sagen will, nicht das, das andere Wort, das ohne mit dem, so was Ähnliches, das, ja, nein, lateinische Wurzel, ja –