Achtzehn

27.7. 2011 18:00

Mit G., die ein Astrozytom Grad II oder III hat, im Volkspark Federball gespielt und spazierengegangen. Unausgesprochen hängt ein „Kennst du ja“ an jedem Satz. Gleiche Post-OP-Sache bei ihr, drei Tage ohne Schlaf, Stimmen im Kopf, Klapse usw.

28.7. 2011 19:00

Allein am Plötzensee, dann mit C. The Social Network gesehen. Wie man aus zwei Nicht-Themen (Geld und Internet) mit brillanten Dialogen einen brillanten Film machen kann. Allein warum Zuckerberg zwischendurch als Arschloch tituliert wird, hab ich nicht verstanden, ist ja von Anfang an viel zu sympathisch.

29.7. 2011 8:41

Traum: In den Baracken auf den Feldern, wo früher die Türken wohnten, ist jetzt eine Berlin-Mitte-Bar aus grobem Holz gezimmert. Mit Passig vor dem Rechner sitzend lese ich mein Blog und entdecke einen Fehler an der Stelle mit Lushins Verteidigung. Weil mir undeutlich bewußt ist, nicht in der realen Welt zu sein, versuche ich ihn mir mit Mnemotechnik einzuprägen und kratze die Worte „weiter nichts“ mit einem Radiergummi vom Bildschirm. Erwachend bin ich sicher, daß die Worte im Text nicht vorkommen. Aber sie sind da und gehören tatsächlich gestrichen.

29.7. 2011 22:27

An der Tür wird geklopft, ein warmes Brot liegt vor der Tür. Hallo? ruft der vierte Stock. Hallo, ruft das Treppenhaus zurück.

30.7. 2011 16:45

Fahrt zu Lentz. Müggelsee. Nina Hoss. Im strömenden Regen kein Ufer.

31.7. 2011 18:23

Passig korrigiert, will Unmengen rausschmeißen. Erfahrungsgemäß hat sie immer recht, und Gestrichenes vermißt man hinterher nie. Aber die Wochen Arbeit, die da drinstecken, und nochmal Wochen und Monate Recherche. Marek zumindest hat gegen das Cockcroft-Kapitel nichts einzuwenden, endlich Informationen, endlich Boden unter den Füßen. Kampf der Häuptlinge aber auch für ihn ein Fremdkörper. Lepidoptera schon draußen.

2.8. 2011 15:37

Fahrt an die Ostsee. Zuerst ein Schwerbehindertenabteil für mich allein, dann kommt eine bettelnde Frau, die drei Euro verlangt, dann ein Mann mit pumpenden Kopfhörern. Flucht in den Großraum.

4.8. 2011 17:23

Jeden Morgen bei Sonnenaufgang baden. Tagsüber Volleyball, genauso gut wie letzten Sommer.

Die Vögel, die ich immer Raben genannt habe, sind Dohlen.

5.8. 2011 18:45

Vier, fünf Sätze Volleyball, körperliche Erschöpfung. Am Tisch flackert das Teelicht, ich frage: Was ist das für eine Helligkeit? Meine Mutter bittet meinen Vater, das Licht zu löschen. Speichel sprudelt aus meinem Mund, die Sitzordnung am Tisch hat sich spiegelverkehrt. Ich stelle mich an die Böschung. Ich möchte etwas sagen und kann es nicht. Ich denke darüber nach, was ich sagen will, und weiß es nicht. Ich will eine Mitteilung über meinen Zustand machen. Ich will meine Dateien überarbeiten. Ich versuche, mich zu erinnern, was ich zuletzt gestrichen habe, und kann mich nicht erinnern. Zuerst glaube ich es noch zu wissen, dann bricht der ganze Roman in mir auseinander. Ich will an den Rechner, weil ich den Eindruck habe, er sei auch dort zerbrochen. In immer neuen Anläufen, etwas zu sagen, kommt nichts raus. Stärker als der Wille zu reden ein anderer Wille mit unklarem Ziel.

Meine Mutter sagt Epilepsie, ich streite es innerlich ab. Die Panik jetzt das größere Problem. Ich will ans Meer, und ich will allein. Mein Vater kommt hinterher. Die Häuser stehen auf der falschen Seite. Wir schauen über die See. Landzunge Göhren, Landzunge Sellin, einander zu ähnlich, um sagen zu können, ob sie die Plätze getauscht haben. Zurück im Haus esse ich mit großem Hunger. Immer noch kann ich nicht sprechen. Ich denke, vielleicht fällt es nicht auf. Ein Mensch, der wortlos ißt. Scham das vorherrschende Gefühl, Verwirrung. Im Zimmer oben Blick in die Dateien. Sie sind genauso zerschossen, wie sie mir in meinem Kopf erscheinen. Wikipedia: Epilepsie. Keine verwertbaren Informationen. Stiller Spaziergang mit Mutter die Uferpromenade lang. Nun erste Worte. Vom Teelicht bis hierhin etwa eine halbe Stunde. An Helligkeit und Speichel keine Erinnerung. Überlegung, den Arzt anzurufen. Aber wozu?

6.8. 2011 7:15

Im nur hüfthohen Wasser gebadet, Vater am Strand. Er beharrt darauf, ich hätte mich überanstrengt. Versuch eines arbeitsfreien Tages.

Einstellungstest der Römischen Truppen: Durch ein drehendes Wagenrad auf eine helle Lichtquelle, für gewöhnlich die Sonne, schauen.

Meiner Mutter ein Gedicht von Georg von der Vring aufgesagt: An der Weser, Unterweser wirst du wieder sein wie einst. Durch Geschilf und Ufergräser dringt die Flut herein, wie einst.

7.8. 2011 10:39

Heute früh Regen, leerer Strand, Schwimmen. Arbeitsunfähig. Angst vor erneutem Anfall, fühle mich dünn in eine etwas papierene Welt hinausgebaut.

Hätte man mir vorgestern Zettel und Stift in die Hand drücken können? Motorisch war ja alles in Ordnung. Ist aber niemand drauf gekommen, auch ich nicht.

Dieser Scherbenhaufen im Innern bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu sprechen, das ist nicht meine Welt. Auch wenn man da möglicherweise noch zwei Gemüsestufen über dem Apalliker rangiert, das geht nicht. Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst.

Meine Mutter hat einen riesigen Grashüpfer in einer Schale gefangen. Das graue Haus da rechts neigt noch immer zur Unsichtbarkeit. Grün und rot sind stabiler.

9.8. 2011 11:00

Häuser, Bäume, Landschaften. Lange nachgedacht, wie man das formulieren soll. Die Durchscheinigkeit der Dinge und das durch die Dinge durchscheinende Nichts. So ungefähr.

Kein ganz neues Gefühl, aber eingekleidet in neue optische Varianten.

Keine Arbeit.

Kurzer Besuch beim Neurologen der Insel. Spricht von Narben und elektrischen Blitzen, stellt sonst nichts fest. Levetiracetam, vier Tage morgens eine, dann morgens und abends eine, dann in Berlin zum Arzt. Und schwimmen Sie vielleicht nicht allzu weit hinaus.

9.8. 2011 16:32

Schwerer Regen in den Kiefern. Keine Wellen.

10.8. 2011 11:56

Arbeite Passigs Kürzungen ein, fällt unendlich schwer.

Weiter starke Unsicherheit, als sei der Schädel ein Sieb und scheine Licht herein und hinaus.

11.8. 2011 7:38

Kalt. Regen. Gebadet.

11.8. 2011 10:29

Oft weiß ich nicht, wie es mir geht, und frage mich es auch nicht. Aber an der Geschwindigkeit, mit der die Zeit vergeht, merke ich es. Es ist seit drei Minuten 10:29, das bedeutet konzentrierte Arbeit.

12.8. 2011 19:30

Der zwölfte August in meinem Kalender ist eingekastet, grabsteinförmig, mein Todestag, errechnet in der Woche nach der OP aufgrund der ersten von Passig runtergeladenen Statistiken, siebzehn Komma irgendwas Monate. Der Nachmittag vergeht mit einem langen Strandspaziergang im Regen nach Sellin runter und zweimaligem Baden im 15 Grad kalten Wasser. Herrliche Wellen, herrlich alles.

16.8. 2011 10:02

Seit vier Tagen in Berlin, immer noch nicht beim Arzt gewesen. Aber langsam Beruhigung. Fahre schon wieder auf der Torstraße Rad, schwimme im Plötzensee an der Nichtschwimmerleine lang, vielleicht kauf ich noch einen Helm.

17.8. 2011 10:21

Unter der Dusche gepinkelt hat sicher jeder schon mal, unter der Dusche Zähne geputzt die meisten. Aber beim Duschen Tee getrunken? Auch schön.

17.8. 2011 14:00

Besuch bei Dr. Vier. Ein Anfall kann Zeichen einer Verschlechterung sein, kann aber auch einfach ein Anfall sein. Wir belügen uns gegenseitig. Ein guter Arzt. Tagesdosis hochgesetzt auf 1 Gramm.

17.8. 2011 19:30

Langes Telefonat mit G. Vorboten und Auslöser, mit und ohne Aura. Bei ihr ist es ja nur die Hand. Bestattung, Gefühle der Angehörigen, die Frage, was übrigbleibt in Gedanken und wie lange. Die Seele (sie hat eine, ich nicht), das Zeitfenster, in dem man lebt und plant (bei mir zuletzt von einem Tag zusammengeschnurrt auf irgendwas zwischen zwei Stunden und fünf Minuten, bei ihr etwas länger). Die Unfaßbarkeit, in genau dieser Sekunde zu leben, während andere nicht leben. Gedanken beim Schuhekauf und die Wette, wer auf des anderen Grab pinkelt.

Seltsam, mit jemandem zu sprechen, der dasselbe weiß wie man selbst.

Man wird nicht weise, man kommt der Wahrheit nicht näher als jeder. Aber in jeder Minute beim Tod zu sein, generiert eine eigene Form von Erfahrungswissen.

18.8. 2011 18:57

Am Plötzensee im Bootshaus. Schön könnte es sein, und schön könnte man arbeiten, aber nicht heute. Erst ein Rentnerehepaar, das sich über das Topthema der Menschheit verständigt, das Sichtbare: „Da hat er was in seinem Rucksack, glaub ich, der hat was in seinem Rucksack, ja, da ist was drin, sieht ganz schön schwer aus, ist schwer, ist bestimmt was drin, jetzt geht er die Treppe rauf, siehst du, er geht die Treppe rauf.“

Die Frau schwingt Restflüssigkeit aus ihrem Bierglas, rollt es eine Minute lang in ein Handtuch, und sie räumen das Feld für zwei Freundinnen, die von dem in Notwehr agierenden Stenographen ebenfalls nichts mitkriegen. „Das kannst du deuten, wie du möchtest, warum glaubst du, daß ich dir hier so eine Szene mache, du und ich, wir sind völlig verschieden, ich möchte irgendwie eine Entschuldigung, ich hab ihr doch mehrfach eine Chance gegeben, ein drittes Mal tue ich das nicht, die lacht sich doch einen, die ist mir wirklich egal, die Vorstellung, aber Scheiße bleibt Scheiße, das ist eine ganz andere Liga, eine ganz andere Liga, du wirst es niemals wirklich wissen, wird einfach nicht gelingen, wird nicht gelingen.“

Die Sonne über dem See.

Jetzt dachte ich schon, sie umarmen sich, aber es ist nur die eine, vergraben in ihre Frisur. Die andere ist fort.

Klobenutzung kostet schreiend eingeforderte 50 Cent.

19.8. 2011 12:34

Passig ein problematisches Kapitel geschickt, und sie hat keine Korrekturen. Wahnsinn. Ich schreibe seit zehn Jahren mit der Passig-Schere im Kopf, seit einiger Zeit dreht außerdem die Marcus-Gärtner-Schaufel meine Sätze um, wenn ich noch ein paar Jahre übe, mache ich beide arbeitslos.

Und Passig hält insgesamt den Daumen hoch. Hat sie vorher noch bei keinem Buch gemacht.

19.8. 2011 19:30

Fußball, nachdem ich fast verschlafen habe. Läuferisch gut.

21.8. 2011 23:48

Mit Joachim und Marek am See, dann im Bootshaus. Langes Gespräch über Tagebücher und Liebeskummer. Draußen läuft Musik, Seventies, ein Hall auf der Chorstimme. Der Hall liegt plötzlich auch auf meiner Stimme. Ich will die anderen fragen, ob sie das auch hören, kann aber vor Angst nicht sprechen. Maximal eine Silbe, dann Hall, dann Abbruch. Ich halte meine Hände nach vorn. Ich nehme ein Tavor. Marek führt mich fort von den fatalen Melodien. Im Park höre ich die Stimmen der Leute, die nah und fern rund um den See sitzen, aber ich kann niemanden sehen. Sind überhaupt Leute da?

Pantomimisch deute ich an, daß ich ein Notizheft und einen Stift brauche. Auf den eilig herbeigeholten Block schreibe ich: „Ich habe einen epileptischen Anfall habe ich den einen bekommen. Du mußt dich nichts damit angekommen. letzten Mal war es 20-30 minuten. Ich kann nicht sprechen an.“ Grammatik zerschossen, Schriftbild normal.

Marek hält meine Hand. Ich deute an, daß das Schlottern meiner Beine kein Teil der Epilepsie, lediglich Folge der Angst ist. Nach einer knappen Viertelstunde ist es vorbei. Für mein Zeitgefühl drei Minuten. Teilamnesie. Ich schlage vor, das nächste Mal kleine Oliver-Sacks-Experimente durchzuführen.

Marek begleitet mich nach Hause. Ist der Roman jetzt eigentlich fertig? Wird er noch fertig? Geht es schrittweis in die Grube? Bin ich eigentlich noch mit C. zusammen? Ich weiß es alles nicht, und nichts davon interessiert mich. Alle seelische Energie ist verbraucht.

Die auf dem Block notierten Sätze entsprechen ziemlich genau der Struktur meiner Gedanken währenddessen.

Später in der Nacht erwache ich, weil der Fernseher läuft, Filme über die Maueröffnung. Das interessiert mich wieder. Großartige Zeit. In den Achtzigern hatte ich keinen Fernseher. Ich mußte mich bei Eva einladen, um zum ersten Mal die Bilder zu sehen. Aber wie alle Linken, die ich damals kannte, also alle, stand sie der Sache ganz gleichgültig gegenüber.

22.8. 2011 17:48

Spanische Jugendliche am Plötzensee werfen sich einen Ball zu, immer die gleichen Rufe und Antworten. Plötzlich höre ich sie, bevor sie rufen, plötzlich sind sie in meinem Kopf, plötzlich kann ich spanisch. Ich wage nicht zu testen, ob ich noch reden kann. An der Weser, Unterweser. Ich komme nicht mal bis Weser. Ich sehe auf die Uhr. Ich drehe mich vom Rücken auf den Bauch. Nach ein paar Minuten ist der Spuk vorbei.

Dann baden, scheiß auf den Anfall. Mein Leben.

23.8. 2011 9:38

Von Elina geträumt, die in einem Garten voller absurder Insekten wohnt. Dazwischen kleine Plastilinfiguren, die Insekten täuschend ähnlich sehen. Mein eingebildeter Begleiter zieht eine Waffe und zielt auf die falschen Insekten. Ich halte ihn ab mit dem Verweis auf den wahren Mörder, der hinter der Tür warte, eine Mörderin, eine mir unbekannte Frau. Die Frau greift mit der Faust unter ihr Kinn und zieht sich eine Maske vom Gesicht wie Fantômas, darunter nochmal dasselbe Gesicht.

In meinen Träumen fehlt die Passig-Schere noch.

23.8. 2011 11:08

Anruf bei Dr. Vier. Dosis auf 1,5 Gramm erhöht. MRT auf Mitte September vorgezogen. Kann sein, daß es jetzt losgeht, kann auch sein, daß es ein Ödem ist. Aber irgendwas ist wohl.