Elf

10.12. 2010 23:00

Neue Kneipe nach dem Hallenfußball in Marzahn: Bier ein Euro zur Happy Hour, sonst 1,20. Junge, wahnsinnig freundliche, aufgekratzte Bedienung. Ab und zu erheben sich die Gäste und taumeln umher zum Euro-Trash. Jeder hat eine Strichliste seiner Getränke umgedreht neben sich liegen, damit die anderen nicht sehen, wieviel Geld er in der Tasche hat. Zehn Striche: Mindestens zwölf, dreizehn Euro. Zu gefährlich, sagt die Bedienung.

15.12. 2010 16:37

Prof. Moskopp zitiert Schiller, Benn, Wittgenstein. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dies sei, so Prof. Moskopp, vermutlich zu plakativ (mot juste vergessen). Einigkeit mit Tom Lubbock, der Worte und Sprache verliert, und dennoch: „My thoughts when I look at the world are vast, limitless and normal, same as they ever were.“

17.12. 2010 15:43

Unangemeldeter Besuch eines jenseitsgewissen Christen, der mein Blog gelesen hat.

18.12. 2010 14:07

Auch mit großer Anstrengung kann ich Angst vor dem Tod nicht mehr empfinden. Im Badezimmer stehend die Erinnerung an meine pulitzerpreisverdächtige Grimasse im Frühjahr, als ich während eines Verzweiflungsanfalls in den Spiegel sah. Erinnerung, aber kein Gefühl.

Ich wäre ein guter Soldat jetzt und ein idealer Selbstmordattentäter. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, in den Krieg zu wollen. Das Bedürfnis, noch einmal unter gleichen Bedingungen anzutreten wie alle.

20.12. 2010 9:20

Im Schneetreiben zum MRT. Bei Hypermethylierung und der Kombination Strahlen und Temodal erscheint das Rezidiv im Mittel nach 10,1 Monaten. Seit meiner OP sind jetzt genau 10,1 Monate vergangen. Wenn ich richtig rechne, bedeutet das einen Münzwurf.

In Princeton haben sie dreißig Jahre lang ein Institut gehabt, in dem versucht wurde zu zeigen, daß – in sehr großen Testreihen – Münzwürfe mit Gedanken beeinflußbar seien. Geringfügig, aber signifikant. Nach Millionen von Würfen wurde das Institut 2007 aufgelöst.

21.12. 2010 22:47

Erinnerung: Der weiße Lack auf meinem Gitterbett. Ein Lichtschalter, dessen Kabel in einem Plastikrohr in der Wand verschwindet, in das man Zweige stecken kann. Ein Heftchen mit ausgestanzten Tierumrissen zum Nachzeichnen, das so schnell aus meinem Besitz verschwindet, wie es aus dem Dunkel aufgetaucht ist. Die durchsichtigen Plastikschälchen unter den Füßen der Möbel. Die Nische hinter dem Kühlschrank, in die mein Vater mich hinabläßt, um einen Groschen zu suchen. Der Türstopper, der so wenig zur Wohnung gehört wie der Bauchnabel zum Menschen. Der Reisekoffer auf dem Schrank, in dem mein Vater mich versteckt und wo meine Mutter mich nicht findet. Mein Name auf meinem Schlitten, mit Lötkolben eingebrannt. Unser Name im Telefonbuch, Beweis unserer Existenz. Der alte Mann, bei dem Frank und ich für fünf Pfennig was bestellen dürfen, wenn er zum Bäcker fährt. Der von meinem Vater aus einer Garnrolle, Gummibändern, einem Schaschlikspieß und einer Scheibe Kerzenwachs gebastelte selbstfahrende Panzer. Der von meinem Vater aus einer Astgabel, grünem Isolierband und Weckgummis gebastelte Katschi. Der Totenkopf auf der achten Stufe von unten. Das sich alle paar Meter wiederholende Muster auf dem Teppich meiner Oma, das für die Befahrung mit Matchbox-Autos empörend ungeeignet ist. Die roten Zeichen auf schwarzem Buchrücken: IDIOT. Der zugeschraubte Briefschlitz als Versteck für den Schlüssel. Die Erlaubnis, die Wände zu bemalen, weil anschließend tapeziert wird. Der Geschmack der Berberitzenblätter. Der Rasenmähermann. Der Berliner Bär an einem Betonmauerfragment mit Stacheldraht, dem man bei jedem Spaziergang die Hand geben muß. Die orangen Straßenlampen, unter denen die Welt ein Schwarzweißfilm ist. Der Dartpfeil in meinem Oberschenkel. Die 8 aus Sahne auf der Geburtstagstorte Stefan Büchlers. Der uns von Andrea zugespielte Zettel, der vor Bruno und seiner Bande warnt. Die Broscheits, die unsere Höhle zerstören und uns Zigarettenrauch ins Gesicht blasen. Die alkoholisiert wirkenden Junikäfer, gefangen in der Bespannung der Federballschläger. Der zugeschraubte Briefschlitz als Versteck für die Munition der Erbsenpistole. Der Mörder in der Kirchenstraße, von dem Andrea berichtet. Die vergebliche Suche nach ihm. Das nutzlose Metallding an der Ziegelwand der Christuskirche. Der Glockenturm, wo der Pfarrer sich erhängt hat. Die Frage, ob man sich allein über den Friedhof traut. Die rote Taschenlampe, mit der wir nachts vergeblich versuchen, die Autofahrer zu täuschen. Die Türken in den Baracken auf den Feldern. Die kleinen Türken, die Herrenräder fahren, indem sie ein Bein durch das Rahmendreieck auf die Pedale auf der anderen Seite stecken. Die Murmelbahnen im Sand. Die Raumschiffe. Die Schlösser. Die Flugzeuge, die starten und landen in der Nacht vor meinem Fenster. Die rauchende Linienmaschine, die hinter den Feldern landet und an der Autobahnbrücke von Hasloh zerschellt. Meine Eltern, die sich weigern, mit mir hinzufahren. Die Geranien, deren Rot tagsüber heller ist als ihr Grün. Die Geranien, deren Rot abends dunkler ist als ihr Grün. Der zugefrorene Feuerwehrteich. Das Mädchen mit der Tigerkopfjacke. Der Versuch, sich in der Feldmark zu verlaufen. Die in die Luft geworfenen Frösche. Die picknickenden Erwachsenen, die endlich eingreifen. Das aus Hagebutten gewonnene Juckpulver, zu kostbar, um eingesetzt zu werden. Die Jäger, die neben sich Bündel Hasen liegen haben wie Bündel Mohrrüben. Die aus enorm vielen Teilen bestehende Türklinke am Kornhoop 42. Der furchtbare Schäferhund auf dem Weg dorthin. Die in die Eisblumen gedrückten Münzen, die bis zum Morgen auf den Fensterrahmen wandern. Das verlassene Bauernhaus am Tennisplatz. Die Brotschneidemaschine, mit der dort jemand getötet wurde. Andrea, die das farblose Blut auf dem Boden erklärt. Der Hase im Schnee, der sich fangen läßt, der von meinem Arm stürzt, der frontal gegen die Hauswand rennt und in die Kasematte fällt. Monika aus meiner Klasse, die das Tier in einen Karton setzt und zum Tierarzt fährt, der es einschläfert. Meine Scham, mein Entsetzen. Die Alpträume von Hasen mit trüben, schneeblinden Augen, die Stücke aus meinem Oberschenkel reißen. Usw.

22.12. 2010 10:22

Befund: Gliöse Veränderungen, vermutlich therapieinduziert (Strahlen), kein Tumorwachstum, Verdacht auf Niedergradiges, sagt der Radiologe, sehr unwahrscheinlich bei hochgradigem Glioblastom, sagt der Onkologe, Schrankenstörung regredient. Also alles ok? Ja, alles ok. Im ersten Jahr sterben ist für Muschis.

24.12. 2010 8:20

Traum: Treffe C. im Jenseits (Nebel, hellgelb) und weiß, irgendwas stimmt nicht. Einer von uns beiden ist hier falsch. Vielleicht beide.

Das Bild offenbar Folge des tags zuvor im Spiegel gelesenen Moltke-Briefwechsels, wo Helmuth James kurz vor seiner Hinrichtung spekuliert, vielleicht „gleichzeitig“ mit seiner Frau im Jenseits anzukommen und nicht erst, wenn sie auch stirbt, da die Kategorien von Raum und Zeit dort keine Geltung haben. Wie er aus „Herrn Kant“ gefolgert hat.

Die Frage, die ich mir auch als Kind schon immer gestellt habe, seit ich bei unseren Nachbarn zum ersten Mal religiösen Vorstellungen begegnete: Ob es diese armen Irren leichter haben am Ende. Offensichtlich nicht. Moltke geht es nicht gut, und man weiß nicht, warum, wo ihm doch nichts Entsetzlicheres bevorsteht als das ewige Leben. Stattdessen Erwägung entwürdigender Gnadengesuche an Hitler und Himmler.