Eins

8.3. 2010 13:00

Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm. Jetzt habe ich einen Panoramablick über ein trapezförmiges Stück Spree, den Glaszylinder des Hauptbahnhofs, einen Kanal und klassizistische Gebäude. Auf dem Mäuerchen um die Neuropsychiatrie herum sitzt eine Schulklasse. Mein Bedürfnis, unter Zucken und Schreien einen Zettel durchs Fenster hinunterzuwerfen, wächst: „Hilfe! Ich bin nicht verrückt! Ich werde gegen meinen Willen hier festgehalten! Das mit dem Pinguin war nur ein Scherz, ihr könnt Marek fragen oder Verboten Wolf!“ Aber erstens kann man die Fenster nicht öffnen und zweitens, fürchte ich, würden sie den Witz nicht kapieren.

Gestern noch lag ich auf der Psychiatrie, kann mich aber nicht mehr an viel erinnern, außer an den sehr unaufgeregten Morgenkreis. Eine Patientin wollte für eine andere beten, die sich umgebracht hatte, es wurde aber entschieden, das im Stillen zu tun, jeder für sich. Und an den Zimmergenossen Iwan und die Frage: „Darf ich das Bild über deinem Bett verändern?“ Klar, warum nicht. Dann Verlegung.

Gespräche mit den Ärzten laufen darauf hinaus, daß sie versuchen, mir Erinnerungslücken nachzuweisen, weil ich mich an sie und ihre Namen nicht erinnere. Mich nennen sie grundsätzlich Hernsdorf.

Tests vom Kaliber „Ich sage Ihnen drei Gegenstände: Tennisschläger, Apfel, Omnibus. Was ist dreizehn zum Quadrat? Fünfzehn zum Quadrat? Was waren die drei Gegenstände?“ bestehe ich aber. Die Gespräche kommen mir mehr als einmal wie Dialoge aus dem Krimi vor, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet habe. Der beginnt mit einem Mann, der ungeheuere Kopfschmerzen hat, dann wird ihm der Schädel eingeschlagen, er erleidet eine Totalamnesie und unterhält sich achtzig Seiten lang mit einem Psychologen, der ihm erklärt, daß man von einem Schlag auf den Kopf keine Amnesie bekommt. Am Ende stirbt er.

„Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?“

Ja, ich denke aber auch schnell. Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst und zehnmal so viel.

9.3. 2010 17:00

Als es nachmittags anfängt, süßlich zu riechen und ich im Gemeinschaftsraum ein junges Mädchen am Waffeleisen entdecke, kriege ich einen kleinen, privaten Lachanfall. Sieben oder acht Patienten bekommen reihum Herzchen mit Puderzucker. Die Leute sind sehr freundlich. Außer mir sind alle sediert.

Die ältere Frau, deren Essen von Scientology vergiftet wird und die bedrohliche Symptome entwickelt (sonst wäre sie wohl auf der Psychiatrie und nicht auf der Neuropsychiatrie), protokolliert minutiös ihren Tagesablauf. Ihr Essen. Sie ist witzig und beredt, und ich frage sie: Sind wir verrückt, weil wir alles aufschreiben, oder schreiben wir alles auf, weil wir verrückt sind? Man sieht, ich nehme doch besser meinen Roman in Angriff als einen Aphorismenband.

Zum Lesen und Schreiben sitze ich an dem kleinen Tisch mit Spreeblick direkt vor ihrem Einzelzimmer, und wenn sie an mir vorbeikommt, nennt sie mich Schatzi und schenkt mir ein Duplo: „Originalverpackt.“ Das erste Duplo werfe ich in eine Zeitschrift gewickelt in den Papierkorb. Kuchen, Schokolade und weitere Duplos, die in den nächsten Tagen folgen, esse ich. Und nein, ich glaube nicht an die Sache mit Scientology. Meine Amateurdiagnose war Münchhausen oder so was. Aber ich muß es nicht herausfinden.

10.3. 2010 9:00

Lars fährt mich zum Planungs-CT, eine Kunststoffmaske wird angefertigt, damit bei der Bestrahlung mein Kopf fixiert ist. Anschließend gehen wir in ein Schreibwarengeschäft und sind beide der Ansicht, daß Schreibwarengeschäfte mit die tollsten Geschäfte sind.

11.3. 2010 0:30

Heftiger Kopfschmerz und abermals positive Gedanken, die in der Nacht von der Festplatte gelöscht werden wie alle positiven Gedanken zuvor. Unter unendlicher Anstrengung baue ich die Gedankenkette wieder zusammen und gehe auf Zehenspitzen auf Toilette, um sie aufzuschreiben. Im Moleskine steht am nächsten Morgen: „1. Den andern mitteilen, die Todesangst sei vorüber. 2. Aus dem Widerstand gegen den Gedanken seine Richtigkeit ableiten. 3. Leichter Kopfschmerz bleibt. 4. Werde dennoch ohne Tavor schlafen, womit 2. seine Bestätigung erfährt.“ usw.

Später noch mehr Gedanken ähnlicher Art, diesmal schreibe ich unter der Bettdecke im Licht des Handydisplays, um meinen Zimmernachbarn nicht zu wecken.

11.3. 2010 10:00

Verabredung mit dem Waffelmädchen zum Tischtennis. Im Innenhof gibt es eine Platte, und die Sonne scheint. X. hat verwirrende Ähnlichkeit mit Ira, Mimik und Stimme fast komplett, aber auch Geprächsführung, Interessen, teilweise Aussehen.

Mein Sichtfeldausfall macht sich nicht bemerkbar. Wir zählen keine Punkte, auch geschmettert wird nicht, die Gefahr ist zu groß: Der Ball ist alt, und es ist der einzige auf der Psychiatrie. Nur schnelles, kontemplatives Hin- und Herspiel, dazwischen gelegentlich Stillstand, da gleichzeitig konzentrierter Austausch der Biografien, der Ereignisse rund um den Anfall. Dabei so starke Übereinstimmung des gegenseitig mitgeteilten Wahns (X.: Beherrscherin der Sonne, ich: Seher der Zukunft. X.: Unendliche Funktion gelöst, ich: Die Weltformel ein endloser Zirkelschluß etc.), daß ich mir, der ich immer noch keine klare Diagnose habe (Manie wurde mittlerweile ad acta gelegt) einfach mal ihren Befund anprobiere: Schizo-affektive Störung. Um zu gucken, wie sich das anfühlt. Schizo-affektive Störung. Und wie fühlt sich das an? Manie infolge Schlaflosigkeit infolge Todesangst war mir lieber.

Längere Ballwechsel, und dann geht es rasant über die Dörfer. X. hat gerade Nietzsche komplett. Wir kommen von Heidegger (fraglich) über Grass (Arschloch) zu Salinger (groß) und Piaget (groß). Die Sonne wärmt, wir freuen uns an der Übereinstimmung und rufen die Namen großer Geister. Jetzt bin ich endgültig in der Klapse angekommen.

Ebenfalls im Garten anwesend: 1 Maiglöckchen, einige Krokusse, später zwei Blaumeisen.

Hier wohne ich jetzt also.